Frank Beyer war lange Jahre Mitglied in der SED. Der 1932 geborene Regisseur, studierter Theaterwissenschaftler, drehte u.a. „Nackt unter Wölfen“ (1962, nach dem Roman von Bruno Apitz) und „Jakob, der Lügner“ (1974, nach dem Roman von Jurek Becker), die sich beide mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinander setzen, für das DDR-Fernsehen „Geschlossene Gesellschaft“ (1978), ein Film, der erst nach umfangreichen Schnitten von der Zensur freigegeben wurde, „Das Versteck“ (1977), der wegen der Übersiedlung Manfred Krugs nach Westberlin in der DDR nicht aufgeführt wurde, und „Der Aufenthalt“ (1983), der aufgrund von Protesten aus Polen auf der Berlinale nicht gezeigt werden durfte (in dem Film geht es um einen jungen SS-Mann, der in polnischer Kriegsgefangenschaft unschuldig des Mordes bezichtigt wird).
Beyer scheint das typische Beispiel für einen im Kulturbereich Tätigen in der DDR, der als Parteimitglied zwischen eigenem Idealismus – allerdings mit durchaus praktischer Relevanz und entsprechend deutlichen Änderungsvorschlägen – und dem ideologisch bestimmten Pragmatismus der Nomenklatura aufgerieben wurde. In seinem Film nach einem in der DDR von der Partei gelobten Roman von Erik Neutsch erzählt er von drei Personen auf einer Baustelle – einem Zimmermann, einer Ingenieurin und einem Parteisekretär –, den Konflikten, in die sie geraten, und von den Lösungen oder Scheinlösungen, die für diese Konflikte gesucht und gefunden wurden. Drei Tage nach der Uraufführung wurde „Spur der Steine“ wegen „antisozialistischer Tendenzen“ aus dem Programm genommen, weil er angeblich „eine SED vorführte, die innerlich tief zerstritten ist, die zwei sich bekämpfende Flügel hat“ und weil er „aufgrund von falschen politischen Positionen seines Regisseurs auch künstlerisch ganz schwach sei, eben ein Machwerk in jeder Beziehung“ (so der damalige Kultusminister Gysi). Für Beyer folgte nach der Absetzung des Films Studioverbot; er ging von Berlin nach Leipzig, Rostock und Dresden. Die von der Partei organisierten „Proteste“ von „Arbeitern“ gegen die wenigen Aufführungen des Films nahmen teilweise groteske Züge an, wenn etwa in Kinos gerufen wurde „Unsere Parteisekretäre schlafen nicht mit fremden Frauen“. Andere Zwischenrufer drohten „Ins Gefängnis mit dem Regisseur“ oder „Krug in die Produktion“. [1]
Seit dieser Zeit hatte Beyer immer wieder Auseinandersetzungen mit den Apparatschiks im Kulturbereich der DDR. In einer einstündigen Dokumentation (gedreht 1997), die als Bonusmaterial auf der DVD zu finden ist, erzählt Beyer über seine Filme und die Schwierigkeiten, in der DDR als Regisseur zu arbeiten, seine Tätigkeit nach der „Wende“ und anderes mehr.
Hannes Balla (Manfred Krug) ist der „King“ auf der Großbaustelle von Schkona Anfang der 60er Jahre in der DDR. Balla ist ein körperlich präsenter Mann, kein SED-Mitglied, denn Parteikram und Korsette jeglicher Art sind ihm ein Graus. Seine siebenköpfige Baugruppe ist bei der Partei und Kollegen nicht gerade besonders beliebt. Seine Arbeit allerdings wird geschätzt. Balla sorgt für seine Männer, achtet darauf, dass sie ordnungemäß bezahlt werden – und schuftet besser als viele andere. Aber er nimmt sich auch viele Freiheiten, rauft, säuft, badet nackt in einem betonierten Ententeich im Ort, schmeißt den herbei eilenden, protestierenden Vopo ins Wasser – und kassiert wegen solcher Vorkommnisse des öfteren Rügen.
Der verheiratete Werner Horrath (Eberhard Esche) wird eines Tages neuer Parteisekretär auf der Baustelle. Fast zugleich wird die junge Kati Klee (Krystyna Stypulkowska) als Ingeneurin in Schkona eingestellt. Balla wie Horrath verlieben sich in die selbstbewusste junge Frau, die viel Mut beweist, ausschließlich unter mehr oder weniger rauen Männern ihre Arbeit anzutreten. Balla, der sich gerne nimmt, was er will, scheitert bei Kati. Eine Ohrfeige macht ihm deutlich: bis hierher und nicht weiter. In Horrath allerdings verliebt sich die junge Frau – und wenig später ist sie schwanger: eine Katastrophe für den verheirateten Parteisekretär und auch folgenreich für Kati. Beide beschließen, dass Kati nichts über die Vaterschaft ihres Kindes sagt.
Aber es gibt noch andere Probleme in Schkona. Dem Oberbauleiter Trutmann (Walter Richter-Reinick) wachsen diese Probleme – Materialengpässe und organisiertes Missmanagement – über den Kopf. Er ist für diesen Posten nicht tauglich. Auch der in der Parteileitung sitzende Hermann Jansen (Johannes Wieke) schwankt zwischen Loyalität zu Partei und Staat, vor allem bezüglich der vorgegebenen Plankennziffern, und der Notwendigkeit, endlich richtige Entscheidungen zu treffen, damit aber von den Vorgaben abzuweichen. Horrath soll aufräumen, vor allem auch mit dem widerspenstigen Balla. Er erkennt allerdings rasch, dass Balla letztlich der fähigste Mann unter den Bauarbeitern ist, und setzt sich zum Ziel, Balla für die Lösung der Probleme auf der Baustelle einzuspannen. Balla selbst erkennt, dass Horrath kein erbärmlicher Apparatschik ist.
Als dann allerdings die Direktive von oben kommt, auf der Baustelle das Dreischichtsystem einzuführen, spitzen sich die Auseinandersetzungen zu. Gleichzeitig versucht Jansen herauszubekommen, wer für den „moralischen Frevel“ – die Schwangerschaft Katis – verantwortlich ist. Balla findet schnell heraus, dass Horrath der Vater des Kindes ist. Alles scheint auf eine private wie berufliche Katastrophe hinauszulaufen ...
„Spur der Steine“ stellt – sicherlich nicht nur wegen Rücksichtnahme auf die DDR-Zensur – keinen auch nur versteckt vorgetragenen Frontalangriff auf die Politik der staatlichen und Parteistellen der DDR dar. Beyer unternimmt einen auch heute noch sehenswerten und historisch äußerst interessanten Versuch, die verschiedenen Interessen im Umkreis von Wirtschaft, Staat und Privatleben in Fokussierung auf die drei Hauptfiguren in ihren Gegensätzen darzustellen und legt den Finger in alle Wunden, egal von welcher Seite. Die fast schon dokumentarische Art und Weise zeugt von Beyers eigener Überzeugung zu dieser Zeit, die Verhältnisse innerhalb der DDR zum Besseren wenden zu können, gleichzeitig aber auch von schonungsloser Kritik an Dummheit, Egoismus, Verantwortungslosigkeit, Inkompetenz und Machtgerangel, die sich hinter abstrakten Parolen und Devotismus zu Partei und Staat verschanzen. Beyer unterlässt es dabei, Parteimitglieder über einen Kamm zu scheren. Gerade in der Figur des Werner Horrath zeigt er die Widersprüchlichkeit und letztendlich Vergeblichkeit des Versuchs, gegenüber der Allgewalt staatlichen Machtanspruchs eine auch nur kleine Nische privaten Glücks zu erkämpfen. Nicht nur das. Horrath hat nicht den Mut, zu der Vaterschaft und damit auch zu Kati zu stehen. Er wird als Mensch gezeigt, der dies nicht so sehr aus Feigheit oder Egoismus, sondern aus falsch verstandener Loyalität „dem Aufbau des Sozialismus“ gegenüber verheimlicht.
Die daraus resultierenden Konsequenzen – Horraths Absetzung als Parteisekretär ist nur eine – bewirken genau das Gegenteil von dem, was die Verantwortlichen vorgeben erreichen zu wollen: der fähigste Mann der Partei wird abgesetzt, der, der die Misswirtschaft auf der Baustelle beseitigen wollte, Kati zieht von dannen und Balla bleibt als einziger zurück.
Horrath gegenüber steht Kati, eine junge, hochintelligente Frau, selbständig, die sich von Männern nichts sagen lässt und es ohne Ängste wagt, auf einer Baustelle zu arbeiten, auf der sie die einzige Frau ist. Horrath gegenüber steht aber auch Balla, ein Kerl, der säuft, auch schon mal die Fäuste schwingt und seinen eigenen Weg zu gehen versucht, soweit er nicht durch Kader daran gehindert wird. Balla ist Individualist, Parteigehabe ist ihm zuwider. Balla sagt, was er denkt, und tut, was er für richtig hält – nicht immer zum Wohle aller und bestimmt nicht zur Freude der Funktionäre. Dennoch: Balla ist ein Typ mit harter Schale und weichem Kern. Er hat Herz, und selbst die auf der Baustelle anwesende Parteileitung hält seine Baugruppe für die beste. Als Horrath als neuer Parteisekretär auf der Baustelle antritt, merkt er dies sofort. Er will Balla auf keinen Fall verscheuchen, allerdings seine „überschüssigen Energien“ für die Arbeit (und die Partei) nutzbar machen.
Zwischen Kati, Horrath und Balla besteht ein enges Verhältnis. Horrath liebt Kati, bewundert ihre Selbständigkeit. Seine Loyalität allerdings hindert ihn daran, vollauf zu ihr zu stehen. Er versucht, sie „verdeckt“ zu schützen, scheitert jedoch letztlich daran. Auch Balla liebt diese Frau, obwohl er mit Kati nie eine sexuelle Beziehung hat. Er kümmert sich um sie, besucht sie, stellt sich vor sie. Balla kommt auch Horrath entgegen, den er respektiert. Zwischen beiden entwickelt sich eine Art Freundschaft. Balla erkennt, dass er der Partei ein Stück entgegenkommen muss, um seine Position zu halten und zu festigen. Aber er kollaboriert nicht. Balla ist nicht der Typ des Kompromisslers, des Kollaborateurs, des Feiglings, des Taktierers. Er repräsentiert (Manfred Krug ist in dieser Rolle auch als er selbst zu erkennen) schon einen (allerdings nicht egozentrischen) Individualismus, der u.a. letztlich der DDR das Genick brechen wird – viel später. Die, die wirklich versagen, sind andere: der unfähige Oberbauleiter Trutmann und der hintertriebene Apparatschik Bleibtreu, der die Macht der Partei auf der Baustelle für sich reservieren will. Beyer zeigt aber auch noch andere Charaktere, etwa einen Ingenieur, der es längst zu hoffen aufgegeben hat, es würde sich noch irgend etwas ändern.
In diesem Spannungsfeld deutlich erkennbarer, äußert unterschiedlicher Figuren lässt Beyer das Spiel der Kräfte ablaufen. Ausgehend von einer Art Partei-Tribunal gegen Horrath, nachdem der seine Vaterschaft zugegeben hat, werden Mentalitäten sichtbar. Der Umgang der Partei mit privaten Problemen, Schwierigkeiten auf der Baustelle usw. ist geprägt von einer Mischung aus patriarchalem „Verantwortungsgefühl“, leeren Parteilosungen, taktischen Erwägungen, Machtinteressen, aber eben auch von Ehrlichkeit und dem Willen zur einigermaßen einvernehmlichen Lösung von Problemen etwa von seiten Jansens, der die höchste Stelle in der Parteileitung an Ort und Stelle einnimmt. Gerade in der Figur Jansens verschmelzen all diese Dinge in einer Person. Jansen ist kein Heuchler oder Intrigant, scheitert aber letztlich bei dem Versuch, „Privates“ und „Gesellschaftliches“ in Übereinstimmung zu bringen.
Hier liegt ein Grundmotiv des Films: zu zeigen, welche Folgen die Anmaßung der SED und der Staatsführung zeitigt, bis in die letzten Winkel des Privatlebens, bezüglich der persönlichen Entfaltung der einzelnen Kontrolle auszuüben und fast jegliche Lebensäußerung auf ihre „staatstragende“, parteikonforme Eigenschaft zu überprüfen. Balla, Kati und Horrath, in gewissen engen Grenzen auch Jansen repräsentieren auf unterschiedliche Weise diejenigen, denen das zuwider ist, die letztlich Opfer dieser Politik werden. Beyer zeigt aber auch die Konsequenzen bezüglich der Organisierung der Arbeit auf der Baustelle, wie eine abstrakte Richtliniendiktatur die Saat ausbreitet für ein auf lange Sicht ökonomisches Desaster einer ganzen Gesellschaft.
Es ist beeindruckend, mit welcher Intensität – etwa im Vergleich mit vielen Gegenwartsfilmen – es Beyer und seiner Crew gelingt, seinen Charakteren Leben einzuhauchen. Da gibt es keine blutleeren Figuren, selbst in den Nebenrollen nicht, etwa der Zimmerwirtin Frau Schickedanz (Gertrud Brendler).
„Spur der Steine“ ist sowohl ein von Inhalt, Charakteren und Inszenierung her gesehen hervorragender Film als auch ein zeitgeschichtliches Dokument sondergleichen. Er verschafft – weit über 30 Jahre nach seiner Entstehung – einen intensiven Einblick in die politischen und menschlichen Konflikte der DDR der 60er Jahre und trägt – das ist das erstaunliche an diesem Streifen – zu dem bei, was oft nur sehr modisch als Aufarbeitung der Geschichte bezeichnet wird.
[1] Vgl. Ralf Schenk: Regie: Frank Beyer, Berlin 1995, S. 54-64.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.