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    Marnie
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Marnie
    Von Ulrich Behrens

    Die Liste der blonden Frauen, teilweise femme fatales, aber nicht immer, bei Alfred Hitchcock ist lang. Um nur einige zu nennen: Carole Lombard, Ingrid Bergman, Marlene Dietrich, Anne Baxter, Grace Kelly, Doris Day, Vera Miles, Eva Marie Saint, Tippi Hedren. Für „Marnie“ wollte Hitchcock wiederum Grace Kelly verpflichten, doch die winkte nach anfänglicher Sympathie für den Stoff ab, weil es im Fürstentum Probleme gebe. Hitchcock war sauer – und verpflichtete Tippi Hedren, die auch in „Die Vögel“ 1962 die weibliche Hauptrolle gespielt hatte.

    Marnie (Tippi Hedren) – das ist wieder einmal eine jener Frauen, die ein Geheimnis umweht, ein finsteres Geheimnis, das es zu enthüllen gilt. Marnie, die Maskenträgerin, geht in der Anfangsszene des Films den Bahnsteig entlang. Zunächst sieht man nur ihre Handtasche, dann sie selbst, aber nur von hinten, ihre schwarzen Haare, ihren Koffer. Hitchcock zeigt sie in einem Zimmer, wiederum nur von hinten. Sie packt ihre Sachen, die sie gerade noch trug, in einen Koffer, verstaut diesen in einem Schließfach im Bahnhof und wirft den Schlüssel weg. Sie übergibt ihren letzten Diebstahl dem Vergessen. Er ist nicht mehr wichtig für sie, Vergangenheit, abgeschlossene erfolgreiche Rache. Marnie ist eine notorische, eine krankhafte Diebin. Sie bestiehlt Männer, weil sie glaubt, mit dem Raub von Geld Männer an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen. Marnie mag keine Männer. Kein Mann darf sie berühren, es sei denn, dass eine Berührung notwendig ist, um an ihr Ziel zu kommen: Geld. Marnie kastriert auf diese Weise Männer.

    Marnie ist blond, schön und eiskalt, skrupellos und unentwegt auf der Straße der Rache. Diese Rache vollzieht sich nicht mit lautem Getöse, mit Blut, Schweiß und Tränen oder mit der Waffe. Marnies Rache geschieht ruhig, überlegt, gerissen.

    Den Steuerberater Strutt (Martin Gabel) hat sie gerade um einige Tausend Dollar erleichtert. Der Firmeninhaber Mark Rutland (Sean Connery) soll ihr nächstes Opfer sein. Marnie hat sich eine verlogene Biografie zurecht gelegt und wird von Rutland – trotz nicht allzu üppiger Referenzen – eingestellt. Warum? An dieser Stelle des Films führt Hitchcock eine Figur in das Geschehen ein, die selbst neurotisch ist. Rutland, dem Marnie schon bei Strutt, seinem Steuerberater, aufgefallen war, weil sie schöne Beine hat, gibt ihr zum Unverständnis seines Untergebenen Ward (S. John Launer) eine Vertrauensstellung, weil er mit dieser Frau schlafen will. Als Ward Marnie beim Bewerbungsgespräch befragt, steht Rutland etwas abseits, sagt kein Wort und hat bereits beschlossen – seine Blicke sagen alles –, dass er sich dieser Frau bemächtigen will.

    Rutland bemerkt sehr rasch, dass Marnie – trotz schwarzer Perücke erkennt er das blonde Gift wieder – diejenige war, die Strutt bestohlen hatte. Das reizt ihn besonders. „Ein Mann will mit einer Diebin schlafen, weil sie eine Diebin ist, wie andere mit einer Chinesin oder einer Schwarzen schlafen wollen“, kommentierte Hitchcock diese Ausgangskonstellation des Films [1]. So treffen eine kleptomanische Frau und ein von fetischistischer Liebe getriebener Mann aufeinander und begeben sich in eine doppelte Abhängigkeit. Während Marnie nur die Wahl bleibt, entweder von Rutland der Polizei ausgeliefert zu werden oder ihn zu heiraten – vor diese Wahl stellt sie Rutland –, schwankt Rutland zwischen Fetischismus und dem von Zuneigung geprägten Gefühl, die Ursache für Marnies Verhalten aufdecken zu wollen. Bis zum Schluss bleibt ungewiss, aus welchen Gründen er dies wirklich tut bzw. welche Gründe überwiegen.

    Zumal es eine andere Frau in seinem Leben gibt, die er permanent zurückweist: Lil (Diane Baker), die Schwester seiner verstorbenen Frau, die ihn liebt, die sich regelrecht bei ihm eingenistet hat, eine fast zierliche Schönheit mit dunklen Haaren und dunklen Augen, fast eine Audrey Hepburn No. 2. Sie will ihn, als Rutland mit Marnie zur Hochzeitsreise aufbricht, demonstrativ auf den Mund küssen; er wehrt den Kuss gerade noch einmal ab. Lil wäre für Rutland ohne Anstrengung zu haben, aber er stößt sie zurück wie einen Hund. Auch bei Lil kann man sich nicht sicher sein, ob sie eine unschuldige, reine Schönheit ist. Die gibt es bei Hitchcock sowieso nur äußerst selten. Lil ist jedenfalls ein Biest; sie bringt Strutt auf die Spur Marnies, als sie ihn und seine Frau zu einem Fest einlädt und Strutt Marnie wiedererkennt. Man könnte auch meinen, Lil liebe diesen Zyniker von Rutland nur, weil der sich ihrer Liebe verweigert. Der Reiz, abgelehnt zu werden, und daher sich noch intensiver auf diesen Mann zu konzentrieren, scheint Lil zu treiben.

    Rutland setzt alles daran herauszubekommen, welches Ereignis in Marnies Kindheit für ihr Verhalten verantwortlich sein mag. Marnie hat Angst vor Gewitter, gerät in Panik, wenn sie Gegenstände oder Personen in knalligem Rot sieht. Rutland beauftragt einen Privatdetektiv, bekommt heraus, dass Marnies Mutter nicht tot ist, lässt sich Kopien von Gerichtsakten besorgen und zwingt Marnie nicht nur zur Heirat, sondern später auch dazu, mit ihm zu ihrer Mutter zu fahren, um der zu entlocken, was Rutland längst ahnt. Doch Bernice Edgar (Louise Latham) soll ihrer Tochter Auge in Auge gestehen, was vor Jahren passiert ist.

    Man könnte fast schlussfolgern, dass nicht so sehr die junge neurotische Frau im Zentrum des Films steht, sondern Rutland. Er zwingt Marnie auf der Hochzeitsreise zum Sex, woraufhin sie versucht sich umzubringen. Andererseits unternimmt er alles, um seiner Frau zu helfen, sie selbst auf die Reise der Entdeckung des Verdrängten zu führen – mal mit Gewalt, quälendem Zwang und zynischer Überlegenheitsattitüde, mal mit fast schon liebevoller Zuwendung.

    „Marnie“ endet mit der Aufdeckung des Ereignisses, das zu Marnies Ängsten, ihrer totalen Ablehnung von Männern und ihrer kriminellen Energie geführt hat. Aber dieses Ende ist nicht die pathetische Feier einer erfolgreichen Psychoanalyse, die zur Gesundung des Patienten führt, auch kein romantisches Happyend, keine Garantie für eine gelungene Beziehung nach Überwindung von Stolpersteinen. Das Ende des Films ist der Anfang des Zweifels: Wie mag das mit Marnie weitergehen, wie mit ihr und Rutland? Wie wird sich ihre Beziehung zur Mutter weiter gestalten, deren Liebe Marnie zeitlebens gefehlt hat? Es läuft einem eher kalt den Rücken herunter, als dass man sich in wohliger Wärme zurücklehnen wollte.

    Wer wirklich Macht über sich selbst besitzt, muss keine Macht über andere ausüben; er kann anderen mit wirklicher Zuneigung oder Sympathie oder auch mit Antipathie begegnen, ohne allerdings in blinden Hass zu verfallen. Hitchcocks Figuren haben fast nie Macht über sich selbst, schon gar nicht, wenn sie als Paar auftreten. Sie bemächtigen sich mit ihren psychological lacks, ihren Depressionen, Mängeln, Neurosen oder sonstigen Defekten, ihrem Verdrängten anderer. Sie projizieren ihre eigene Machtlosigkeit über sich selbst mit der Machtergreifung derer, die Schwächen zeigen. Marnie ist ein optimales Opfer für Rutland. Wenn da nicht irgendwo noch ein leises Gespür von dem wäre, was Zuneigung wirklich ausmacht, würde die Geschichte um Marnie mit einem Desaster enden. Dass dem nicht so ist, verdankt man Hitchcock, dem „Regisseur des Paares“ (Jean-Luc Godard), der dieses Paar gnadenlos seziert, mit der Kamera Robert Burks skrupellos draufhält.

    „Marnie“ enthält phantastische Szenen. Beispiel: Die Kamera zeigt die Büroräume Rutlands, links einen Gang, in dem eine Putzfrau nach Feierabend ihre Arbeit verrichtet, rechts den Raum Wards, in dem Marnie gerade den Tresor ausräumt. Die Kamera beobachtet beide Frauen bei der Arbeit. Marnie weiß von der anderen, die andere natürlich nicht von ihr. Marnie zieht ihre Schuhe aus, um über die Hintertreppe zu verschwinden. Ein Schuh fällt ihr aus der Manteltasche. Marnie hat Glück; die Putzfrau ist schwerhörig.

    Eine andere Szene: Rutland hat Marnie (sie hat gerade ihre Arbeit in der Firma angetreten) am Samstag zu sich bestellt; sie soll einen Text für ihn abschreiben. Ein Gewitter unterbricht das Gespräch der beiden. Marnie bekommt Angst. Schließlich stürzt noch ein Ast durch die Scheibe. Rutland nimmt Marnie in den Arm, langsam nähert sich sein Mund ihrem Gesicht. Einer der schönsten, aber auch furchtbarsten Küsse der Filmgeschichte.

    Hervorzuheben ist noch die Figur der Bernice Edgar, von Louise Latham exzellent gespielt, während die Nebenrollen des Films, Rutlands Vater, Strutt und andere eher etwas vernachlässigt wurden.

    Vielleicht war Hitchcock nicht so sehr der Regisseur der Psychoanalyse, sondern der der Grenzen dieser Wissenschaft.

    [1] Zit. n. François Truffaut in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott: Truffaut / Hitchcock, München 1999, S. 258.

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