Ein beliebtes Spiel der Filmpresse, das bei vielen - Motto: immer der Herde nach - seit der Jahrtausendwende zum guten Ton gehört, hat nun ein Ende. In schöner Regelmäßigkeit wurde den jährlichen Outputs von Altmeister Woody Allen die Relevanz abgesprochen. Immer wieder das Gleiche, keine neuen Ideen, nette, aber belanglose Ware... Was im Kern zwar stimmt, aber ein durchschnittlicher Allen-Film ist halt immer noch um Längen besser als die übliche Mainstreamkost. Doch Schluss damit. Der Meister hat New York den Rücken gekehrt und in London eine neue Heimat gefunden. Das tat offensichtlich gut. Allens opernhaftes Drama „Match Point“ ist ungewohnt ernst, brillant gespielt und von meisterhafter Struktur.
Sein Talent ist enorm, aber der sportliche Ehrgeiz begrenzt. Deswegen gibt es Chris Wilton (Jonathan Rhys-Meyers) auf, sich als Tennisprofi zu versuchen und nimmt stattdessen lieber einen Job als Tennislehrer in einem piekfeinen Londoner Club an. Nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern um so Zugang zur Upper Class der britischen Gesellschaft zu bekommen. Und siehe da, es gelingt dem Jungen aus ärmlichen irischen Verhältnissen prompt. Chris freundet sich mit dem arroganten, aber doch netten Zyniker Tom Hewett (Matthew Goode) an. Es dauert nicht lange, da hat sich Toms Schwester Chloe (Emily Mortimer) in den smarten Tenniscoach verliebt. Selbst die steinreichen Eltern Alec (Brian Cox) und Eleanor (Penelope Wilton) mögen den aufstrebsamen Mann aus der Unterschicht. Papa Hewett ebnet Chris den Weg für die große Businesskarriere, die Heirat mit Chloe steht vor der Tür, doch ein großes Problem lässt alles aus den Fugen geraten. Chris hat sich in die erfolglose Schauspielerin Nola (Scarlett Johansson) verliebt. Das Fatale: Sie ist Toms Verlobte...
Woody Allen, Jahrgang 1935, befindet sich zwar im Herbst seiner Karriere, aber von seiner Energie hat das New Yorker Urgestein nichts eingebüßt. Seinen Rhythmus, einen Film pro Jahr, hält dieser Allen Konigsberg mühelos ein. Der Ortswechsel von seiner geliebten Heimatstadt ins ebenso hektische London ist in der Nachbetrachtung ein Segen, um alte Strukturen aufzubrechen und frischen Wind in Allens Gedankenwelt zu bringen. Erstmals drehte er komplett außerhalb von New York. Dazu hat dem Regisseur und Autor die Arbeit in der britischen Metropole so gut gefallen, dass auch sein nächster Film Scoop in London gedreht wird. Stilvoll fängt Kameramann Remi Adefarasin (Reine Nervensache, Johnny English, About A Boy) die trotz Hektik distinguierte englische Atmosphäre an spektakulären Originalschauplätzen wie der Tate Modern Gallery oder der Royal Opera ein.
„Match Point“ sieht in seiner Gesamtheit nicht wie ein typischer Allen-Film aus und doch ist sein Stil unverkennbar, aber die unverwechselbaren Elemente dienen nur zur Garnierung mit einigen wohldosierten Portionen Sarkasmus. Angesiedelt in der Londoner High Society der Neuzeit spiegelt Allen in seiner Geschichte um Schuld und Sühne die klassische Literatur des 19. Jahrhunderts wider und orchestriert seine sich zur griechischen Tragödie ausartende Story mit italienischen Opernarien. Allen agiert bei „Match Point“ immer virtuos auf mehreren Ebenen. Sein Film beginnt als Society-Porträt mit zynischem Unterton, wechselt vom Liebes- zum Beziehungsdrama über das Kammerspiel und kommt am Ende bei einem klassischen Thriller an, der sämtliche Genres zusammenfügt. Das Lobenswerte: „Match Point“ verfolgt keine streng ausgelegte klassische Dramaturgie, widersetzt sich den Genreregeln und Erwartungen des Mainstreampublikums. Die Entwicklung der Geschichte überrascht immer wieder aufs Neue und zeichnet sich durch eine kompromisslose Konsequenz aus. Woody Allen überhöht seine Motive mit Fortlauf der Handlung und verleiht seinem modernen Sittengemälde etwas Opernhaftes und Theatralisches.
Bei der Besetzung ging Allen diesmal auch andere, neue Wege. Üblicherweise zeichnen sich seine Filme durch famose All-Star-Casts aus. Jeder ist geehrt, in einem Werk des Meisters mitwirken zu dürfen und spielt auch für ein Butterbrot. Auf die ganz großen Namen verzichtet Allen diesmal - abgesehen von der Amerikanerin Scarlett Johansson (Die Insel, Lost In Translation, Das Mädchen mit dem Perlenohrring) - und besetzte gezielt nach Typen. Johansson, die beste Schauspielerin ihrer Generation, spielt zwar nicht die tragende Rolle des Films, aber dafür ist sie die Schlüsselperson. Brillant zeigt die junge New Yorkerin die Facetten ihres Könnens, ist als strauchelnde Schauspielerin Nola Rice wahlweise unglaublich selbstbewusst, zutiefst verunsichert oder der Verzweifelung nahe. Die Rolle gibt viel Potenzial her, was Johansson voll ausnutzt. Allerdings ist ihre Leistung wenig überraschend. Schon eher die gute Vorstellung von Jonathan Rhys-Meyers (Alexander, Mission: Impossible 3), der die Hauptlast schultern muss... und überzeugt. Als Emporkömmling Chris Wilton bahnt er sich den Weg nach oben und hat große Mühe, sich dort zu halten.
Die Nebendarsteller erfüllen ihre Aufgaben ebenso zuverlässig. Besonders erwähnt sei Newcomer Matthew Goode, der stark an einen jungen Rupert Everett erinnert und dessen Nachfolge in seiner Altersklasse antreten könnte – oder wahlweise Hugh Grant das Terrain abgreifen. Sehr schön ist es auch, den großartigen Brian Cox (The Ring, Blutmond, Red Eye) einmal in einer ganz ungewohnten Rolle zu sehen: als sympathischer Patriarch einer Upper-Class-Familie. Ansonsten fällt es nicht immer leicht, bei „Match Point“ auf Sympathieträger zu treffen. Die von Rhys-Meyers dargestellte Hauptfigur Chris Wilton ist ein Antiheld, zwar wider Willen, aber doch mit Nachdruck. Alle Charaktere haben so ihre Schwächen (und sei es die Naivität von Emily Mortimers Chloe) - abgesehen Cox’ Figur. Überhaupt ist die Zeichnung der Personen ausgesprochen fein. Kein Satz ist überflüssig, kein Bild der 123 Leinwandminuten zuviel.
Was fehlt „Match Point“, um in die Phalanx der großen Woody-Allen-Meisterwerke einzubrechen? Eigentlich nichts. Ein altes Leiden, wenn es denn eines ist, konnte (oder wollte) der Exzentriker nicht abstellen. Die Geschichte selbst ist im Grunde banal und bietet in ihrer Grundausrichtung Altbekanntes. Aber Allen ist zugute zu halten, dass die Story im Laufe der Zeit gewaltig Fahrt aufnimmt und sich bis zum großen Knall hochschaukelt. Eben diese spätere Variation des Trivialen hebt Allen so deutlich von der Masse ab. Selbst aus einem Makel zieht er noch etwas Positives. Mit „Match Point“, der in Cannes seine Premiere feierte, verschafft sich Woody Allen wieder Gehör. Ernst wie lange nicht mehr agiert er in seinem 39. Spielfilm. Zu lachen gibt es wenig und wenn, ist es zumeist herzhafte Zynik. Der Film ist eine virtuose, bitterböse, moderne Parabel zwischen Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ und Theodore Dreisers „Eine amerikanische Tragödie“.