Martin Scorsese gibt sich nicht mit Kleinkram zufrieden. Wenn er Epen dreht, dann gestaltet sich auch die Drehlänge wie bei "Gangs of New York" nicht selten zum Epos. Über ein Jahr lang drehte Martin Scorsese "Gangs of New York". Immer teurer und langwiedriger wurden die Dreharbeiten, zwischendurch drohte das Projekt mehrmals zu platzen, doch Scorsese setzte sich durch und brachte das Gangster-Drama über New York des 19. Jahrhunderts schließlich doch noch auf die Leinwand. Da der Kinostart wegen der verlängerten Dreharbeiten mehrmals verschoben werden musste, lief "Gangs of New York" in den USA zeitgleich mit dem zweiten Teil der "Herr der Ringe"-Saga an - und verlor das Duell sang- und klanglos. Nicht nur der Zuschauer verweigerte sich dem Werk mehr als erwartet (Einspiel: 77 Mio. Dollar), auch die Kritiker waren nicht durchgehend begeistert von Scorseses Film. Zu lang, zu viel Blut, zu linear sei der Film. Und in der Tat ist an diesen Vorwürfen einiges dran.
"Gangs of New York" spielt in der 60er Jahren des 19. Jahrhundert. Die USA standen kurz vor dem Kampf Nord gegen Süd, inmitten von New York, in den "Five Points" herrschte allerdings schon lange Krieg. Rivalisierende Gangs kämpften um die Vorherrschaft auf den Straßen. In einer Zeit, da Gesetzlosigkeit und Korruption sowohl die Politik wie das tägliche Leben der Stadt beherrschten, wird die Geschichte von Amsterdam Vallon (Leonardo di Caprio), einem jungen irisch-amerikanischen Einwanderer, der nach 16 Jahren in einer Erziehungsanstalt in den Five-Points-Distrikt zurückkehrt, um sich an William Cutting (Daniel Day-Lewis) zu rächen, erzählt. Cutting, auch bekannt als "Bill The Butcher", ist nicht nur ein mächtiger Gang-Boss, der Einwanderer hasst: Er ist auch der Mörder von Amsterdams Vater. Amsterdam weiß, dass er zur Ausführung seines Plans erst im engsten Kreis von Bills Gang Aufnahme finden muss. Noch schwieriger wird die Situation für ihn, als er Jenny Everdeane (Cameron Diaz) begegnet. Die verführerische Schönheit der geheimnisvollen Taschendiebin fasziniert Amsterdam. Doch auch Jenny hat eine Vergangenheit, durch die seine Pläne noch komplizierter werden.
Amsterdams Reise wird ein Kampf ums Überleben, aber auch ein Kampf um einen Platz für seine Leute. Mitten in den Unruhen von 1863, die sich an der Mobilmachungspolitik der Regierung für den Bürgerkrieg entzündeten, erreicht Gangs of New York seinen Höhepunkt. Die Straßenkämpfe und Aufstände jenes Jahres, die den realen Hintergrund der Filmhandlung liefern, wurden zur Zerreißprobe für Amerika - der härtesten, die das Land bis dahin erlebt hatte.
Martin Scorsese ist durchaus ein Meister auf seinem Gebiet, zeichnete er sich doch für Filme wie "Casino", "Good Fellas", oder "Taxi Driver" aus. Lediglich die Academy, die jährlich den Oscar vergibt, verweigerte ihm bisher ihre Auszeichnung. Mit "Gangs of New York" ist Scorsese diesem Traum zumindest ein Stück näher gekommen. Insgesamt zehn Mal wurde der Film für die Oscars, die am 23. März vergeben werden, nominiert. Eine der Nominierungen geht an Scorsese als bester Regisseur. Und in der Tat hat er, der seit Mitte der 70er Jahre am Projekt "Gangs of New York" gearbeitet hat, Großes geschaffen. Daniel Day-Lewis, der bereits 1989 für "Mein linker Fuß" einen Oscar entgegen nehmen durfte, läuft zu absoluter Hochform auf. Mit seinem Spiel, seiner Mimik schließt er auf in den elitären Kreis der Robert de Niros oder Al Pacinos.
Ein wenig unter der enormen Präsenz von Day-Lewis leidet sein Gegenpart Leonardo di Caprio („Catch Me If You Can"). Zwar brilliert auch er und sieht nicht zuletzt dank der großartigen Maske endlich erwachsen aus, doch mit einem Daniel Day-Lewis in dieser Form kann er sich einfach nicht messen. Wer das könnte, ist gewiss Liam Neeson. Selten hat man ihn zuletzt so überzeugend gesehen. Und mit Neeson beginnt auch schon die Schwäche des Films; lediglich knappe fünfzehn Minuten ist er auf der Leinwand zu sehen, dann muss er sterben. Ein Fehler, seine Aura hätte dem Film gut getan, denn Neeson vermag den Zuschauer zu fesseln, was Cameron Diaz nicht kann. Sie bleibt blass, ist eine glatte Fehlbesetzung. Überhaupt sind die Charaktere, die keine entscheidende Rolle spielen, nur schablonenhaft ausgearbeitet. So geht nicht nur John C. Reilly, der sein ganzes Talent in „Chicago" zeigte, als "Happy Jack" vollkommen unter.
Rache ist das einzige Motiv des Films. Zu wenig für fast drei Stunden, auch eine vermeintliche Liebesgeschichte zwischen Leonardo di Caprio und Cameron Diaz bringt da keinen zweiten Handlungsstrang zustande. Dafür ist der Jungschauspieler Diaz zu sehr überlegen. Grandiose Bilder, dafür garantiert nicht nur der deutsche Kameramann Michael Ballhaus, eine faszinierende Kulisse und zwei brillante Hauptdarsteller, das alles ist "Gangs of New York", aber all das kommt nicht gegen ein schwaches Drehbuch, das die Charaktere nur anreißt, ihnen aber keine Tiefe verleiht, an.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.