Der 6. Dezember 2001. Ein Datum mit Signalcharakter. Einen Tag nachdem Walt Disney 100 Jahre alt geworden wäre, kommt der 40. abendfüllende Zeichentrickfilm aus dem Maus-Haus in die deutschen Kinos. Doch diesmal ist alles anders. „Atlantis - Das Geheimnis der verlorenen Stadt“ ist ein mystisches Action-Abenteuer, das sich ausdrücklich nicht nur an die junge Zielgruppe wendet, dafür aber eine ganze Reihe alter Disney-Prinzipien über Bord wirft. Der ehrwürdige, stets nach Glückseligkeit strebende Walt Disney wird angesichts dieser Abkehr im Grab rotieren. Zu seinen Lebzeiten hätte es „Atlantis“ in dieser Form nicht gegeben. Auch wenn der Film besser ist als viele der letzten Disney-Werke wie „Pocahontas“, „Der Glöckner von Notre Dame“, „Hercules“ oder „Mulan“, vom gern selbst vergebenen Prädikat „Meisterwerk“ ist die Suche des Bücherwurms Milo nach der sagenumwobenen Stadt Atlantis weit entfernt.
1914: Der schmächtige, bebrillte Forscher Milo tristet ein ödes Dasein im Heizungskeller eines Museums. Dort brütet er von allen verlacht über seinen Theorien zur versunkenen, legendären Stadt Atlantis. Als er bereits die Hoffnung aufgegeben hat, geschieht ein Wunder. Ein Freund seines verstorbenen Großvaters ermöglicht ihm eine Expedition in die Tiefen des Ozeans mit dem Ziel, das verlorene Paradies wieder zu entdecken. Mit einer bunt gemischten Crew aus Abenteurern und modernster Ausrüstung macht sich Milo auf den Weg. Doch der gigantische, wenig freundliche Hummer, dem die Teilnehmer der U-Boot-Mission entkommen müssen, ist nur der Anfang aller Schwierigkeiten...
Die Nachfolger von Studio-Gründer Walt Disney haben die Zeichen der Zeit erkannt. Seit „König der Löwen“ geht es kontinuierlich bergab - nicht nur qualitativ, was zu verschmerzen wäre, sondern vor allem an der Kinokasse. Das Studio zog die Konsequenzen und vollführt ausgerechnet zu Walt Disneys 100. Geburtstag eine gewagte 180-Grad-Wende. „Atlantis“ ist kein familienfreundlicher Zeichentrickspaß mehr, sondern ein straffes Action-Abenteuer, das scheinbar zufällig im Zeichentrickformat umgesetzt wurde - keine sprechenden Tiere, keine ewig plappernden Sidekicks, keine schmalztriefenden Songs, abgesehen den „No Angles“, die mit dem aus der Versenkung aufgetauchten Barden Donovan im Abspann trällern.
Die Geschichte - eine temporeiche Mischung aus „Indiana Jones“ und „Jules Verne“, versehen mit einem deutliche New-Age-Touch - ist wie im Hause Disney üblich technisch perfekt umgesetzt - kein Wunder bei einem offiziell bestätigten Budget von 100 Millionen Dollar (Insider munkeln von 150 Mio Dollar, was bei der gebotenen Opulenz denkbar ist). Trotz beeindruckender Optik und rasanter Umsetzung machen die Regisseure Gary Trousdale und Kirk Wise („Der Glöckner von Notre Dame“, „Die Schöne und das Biest“) einen folgenschweren Fehler: Die Identifikationsfiguren fehlen einfach. Nicht nur, dass Forscher Milo von einer Schar mehr oder weniger unangenehmer Gesellen begleitet wird, der Held selbst ist das Problem. Er ist ein schwächlicher Loser, der erst im Verlauf der Handlung über sich hinaus wächst. Aber im Grunde lässt sein Schicksal und das seiner Mitstreiter das Publikum kalt. Zauber und Magie sucht man vergebens. Das führte dazu, dass „Atlantis“ in den USA mit eingespielten 84 Millionen Dollar weit hinter den Erwartungen zurück blieb.
Und jetzt hat Disney ein echtes Problem: Der Zeichentrickfilm für Erwachsene funktioniert nicht. Das zeigte auch das Konkurrenz-Produkt „Titan A.E.“, ein gigantischer Flop. Somit müssen die Strategen weiter nach einer Formel für die Zukunft suchen, um zu altem Erfolg zurückzukehren. Was die Macher aus dem Maus-Haus aber noch viel mehr wurmen wird, ist die Tatsache, dass die Erzrivalen von DreamWorks mit dem satirischen Animations-Abenteuer „Shrek“ nicht nur an der Kasse weit vorn lagen, sondern schlicht den besseren „Disney-Film“ gemacht haben.