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    Lady Bird
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Lady Bird
    Von Christoph Petersen

    Zumindest für ein paar Tage hielt „Lady Bird“ einen eindrucksvollen Rekord auf Rotten Tomatoes: Kein anderer Film konnte auf der Aggregator-Plattform mehr positive Kritiken ohne ein einziges Rotten-Rating vorweisen (am Ende waren es 196 (!) Hymnen, bevor der erste Verriss dazukam). Das brachte dem Solo-Regie-Debüt der bisher vor allem als Schauspielerin („Wiener Dog“, „Jahrhundertfrauen“) und Drehbuchautorin („Frances Ha“, „Mistress America“) bekannten Indie-Ikone Greta Gerwig natürlich einen ungeheuren Aufmerksamkeitsschub, zugleich war damit aber auch die Erwartungshaltung plötzlich eine ganz andere: Wer sich jetzt „Lady Bird“ im Kino ansieht, der erwartet in der Regel eben nicht länger nur eine feine kleine Coming-of-Age-Geschichte, sondern einen der besten Filme aller Zeiten – und ein solch übertriebener Hype tut keinem Kunstwerk gut! Nichtsdestotrotz bleibt „Lady Bird“ ein starker Film übers Erwachsenwerden – mit einem absolut herausragenden Porträt einer Tochter-Mutter-Beziehung als emotionalem Kern.

    Die 17-jährige Christine McPherson (Saoirse Ronan) hat sich selbst den Namen Lady Bird gegeben und mag an 2002 ausschließlich, dass es sich dabei um ein Palindrom handelt. Im kommenden Jahr wird sie ihren Abschluss an einer katholischen Highschool machen und dann will sie nur noch raus aus dem kalifornischen Hinterland, möglichst irgendwo an die Ostküste, wo in ihrer Vorstellung die Künstler im Wald wohnen. Ihre Mutter Marion (Laurie Metcalf) ist von den hochtrabenden Plänen ihrer Tochter allerdings wenig begeistert, denn das Geld ist trotz ihrer vielen Doppelschichten als Krankenschwester jetzt schon knapp, vor allem seit Familienvater Larry (Tracy Letts) seinen Job verloren hat. Zugleich erlebt Lady Bird in ihrem letzten Highschool-Jahr auch ihre erste(n) Liebe(n), zunächst mit dem begabten Musical-Sänger Danny (Lucas Hedges), dann mit dem supercoolen James-Dean-Verschnitt Kyle (Timothée Chalamet)…

    Als nach 21 Stunden und fünf Minuten die Hörbuchversion von John Steinbecks „Früchte des Zorns“ endet, stoßen Lady Bird und Marion im exakt selben Augenblick einen Seufzer tiefer Rührung aus. Sie sind gerade auf dem Rückweg von einer College-Besichtigung und einen profunderen Moment zwischen Mutter und Tochter als in dieser Eröffnungssequenz kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen. Nur Sekunden später stürzt sich Lady Bird allerdings vor Verzweiflung über die passiv aggressiven Sticheleien ihrer Mutter aus dem fahrenden Auto, ihren pinken Gips ziert fortan die Aufschrift „Fuck You Mom“. Die rebellische Tochter, die nörgelnde Mutter – zwei (ausgelutscht geglaubte) Standardrollen des amerikanischen Indie-Kinos, die hier so klischeefrei, berührend und wahrhaftig wie seit Ewigkeiten nicht mehr zum Leben erweckt werden. Man spürt, was sie vereint, man versteht, was sie trennt – und drückt ihnen alle Daumen, selbst wenn man weiß, dass eine solch ambivalente Beziehung nicht über Nacht in Eitelsonnenschein umschlägt (das passiert nur in Hollywood-Klischeeware und da zählt „Lady Bird“ ja gerade nicht dazu). Getragen wird „Lady Bird“ dabei nicht zuletzt von den beiden grandiosen Schauspielerinnen, die im aktuellen Oscar-Rennen zu Recht zu den absoluten Top-Favoriten gezählt werden.

    Aber selbst wenn Saoirse Ronan („Brooklyn“) und Laurie Metcalf („Roseanne“) absolut verdientermaßen im Zentrum vieler „Lady Bird“-Lobeshymnen stehen, möchten wir das Rampenlicht an dieser Stelle lieber auf Autorin und Regisseurin Greta Gerwig richten: Die über das letzte Schuljahr verteilten, scharf beobachteten Episoden - vom Anti-Abtreibungs-Vortrag in der Schulturnhalle bis zum Kauf des Abschlussballkleides im Second-Hand-Laden - sind durch die Bank dermaßen prägnant und auf ihre Essenz verdichtet, dass man nach den selbstsicher-pointierten 96 Minuten kaum glauben mag, dass der erste Skriptentwurf tatsächlich 350 Seiten lang gewesen sein soll (was verfilmt etwa einer Laufzeit von sechs Stunden entsprochen hätte). Eine solch kunstvolle Konzentration aufs Wesentliche haben wir bei einem (Solo-)Regiedebüt (Gerwig hat vorher lediglich zusammen mit Joe Swanberg 2008 den Low-Low-Budget-Mumblecore-Film „Nights And Weekends“ inszeniert) jedenfalls lange nicht mehr erlebt. Es ist nur ein bisschen schade, dass viele der allerbesten Momente schon im Trailer vorkommen, den der geneigte Zuschauer sich in diesem Fall also lieber nicht unbedingt ansehen sollte.

    Obwohl Greta Gerwig selbst aus Sacramento stammt, wie Lady Bird eine betont liberale Künstlerin ist und ihre Mutter ebenfalls als Krankenschwester arbeitet, sind die Geschehnisse in „Lady Bird“ nicht autobiografisch, sondern allesamt fiktional. Trotzdem fängt sie den Kern des Erwachsenwerdens ebenso perfekt ein wie die Atmosphäre ihrer Heimatstadt – weder tritt sie in die Falle, ihr Alter Ego Lady Bird zu einer superschlagfertigen Vorzeige-Liberalen hochzujazzen (im Gegensatz zur unmenschlich perfekten Ellen Page in „Juno“ imitiert Lady Bird eher eine Liberale, ohne wirklich zu wissen, was das eigentlich bedeutet), noch glättet sie im Nachhinein irgendwelche Konflikte (selbst wenn sie den Elternfiguren natürlich deutlich mehr Verständnis entgegenbringt als sie es wohl noch als Teenagerin getan hätte). Ganz stark sind auch alle Szenen, in denen mit dem Auto in Sacramento herumgefahren wird – selbst wer persönlich noch nicht dort war, spürt einfach, wie ganz nebenbei und trotzdem unheimlich präzise, wie das Provinzielle verachtend und trotzdem unglaublich sehnsüchtig hier die Aura der 500.000-Einwohner-Stadt eingefangen wird.

    Im Gegensatz zur alles überstrahlenden zentralen Mutter-Tochter-Geschichte ragen die Beziehungen von Lady Bird zu ihren Lovern und zu ihrer besten Freundin Julie (Beanie Feldstein) kaum aus dem üblichen Genre-Einerlei heraus - gerade die Shooting-Stars Lucas Hedges („Manchester By The Sea“) und Timothée Chalamet („Call Me By Your Name“) verkörpern lediglich bekannte Archetypen, denen sie auch keine wirklich neue Seiten abgewinnen. Dafür gelingt Gerwig aber Erstaunliches bei vielen ihrer Nebenfiguren: Während wir alle Charaktere in der Regel nur in ihrem Verhältnis zu Lady Bird wahrnehmen, gibt es immer wieder eingestreute, stets sehr kurze Momente, in denen wir die anderen Figuren auch in einer anderen Umgebung sehen (den Vater beim Vorstellungsgespräch, den Theaterlehrer bei einer Psychologin). In diesen oft nur wenige Sekunden langen Szenen eröffnet der ansonsten ganz auf seine Titelfigur fokussierte Film den Blick auf die vielen kleinen, ebenfalls voller Leben und Sehnsüchte steckenden Universen um Lady Bird herum. Für eine erst 34 Jahre alte Filmemacherin ist Greta Gerwig nicht nur ein erstaunlich lustiger, wahrhaftiger und berührender, sondern auch ein überraschend weiser Film gelungen.

    Fazit: „Lady Bird“ ist als Coming-of-Age-Film sehr gut und als Mutter-Tochter-Geschichte sogar noch viel besser.

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