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    The Strangers' Case
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Strangers' Case

    Ein flammendes Plädoyer für mehr Menschlichkeit

    Von Lars-Christian Daniels

    Der US-amerikanische Filmemacher und Aktivist Brandt Andersen zitiert für den Titel seines Debütspielfilms einen der bekanntesten Dichter überhaupt: „The Strangers‘ Case“ – oder übersetzt: „Das Los des Fremden“ – heißt eine leidenschaftliche und bereits in reichweitenstarken Kampagnen zitierte Rede, die kein Geringerer als William Shakespeare einst zusammen mit anderen für ein Theaterstück über die historische Figur Sir Thomas More verfasste. Sein über 400 Jahre alter, flammender Appell für mehr Menschlichkeit beim Umgang mit Geflüchteten, der zu Beginn des Films in voller Länge eingeblendet wird, hat bis heute leider nichts an Relevanz eingebüßt: Allein im Jahr 2023 waren weltweit über 100 Millionen Menschen auf der Flucht und sehen sich in den Zufluchtsstaaten – auch hierzulande – oft schlimmen Anfeindungen ausgesetzt.

    Globale Herausforderungen erfordern globale Lösungen – und auch Andersen erzählt in seinem erschütternden Fluchtdrama eine sehr globale Geschichte. Der Regisseur und Drehbuchautor, der seinen preisgekrönten Kurzfilm „Refugee“ hier für „The Stranger’s Case“ mit ähnlicher Besetzung zu einem ganzen Spielfilm ausgebaut hat, verwebt darin das Schicksal von fünf Familien mit Fluchthintergrund über vier verschiedene Kontinente. Dabei herausgekommen ist ein packend inszeniertes, stark gespieltes und mitreißendes Kino-Erlebnis, das man auch unbedingt auf der großen Leinwand schauen sollte – besonders dann, wenn man angesichts der unzähligen Meldungen über Mittelmeertote womöglich schon etwas abgestumpft gegenüber diesen tragischen Schicksalen sein sollte.

    Philistine Films
    Der Schleuser Marwan (Omar Sy) lässt Kinder auf dem Meer ertrinken – während er gleichzeitig um die Gesundheit seines eigenen Sohnes kämpft.

    „The Strangers‘ Case“ beginnt allerdings nicht auf dem Meer, sondern für einen kurzen Moment in Chicago: Ein Kameraflug, der sicher nicht zufällig ein Hotel mit einem riesigen „Trump“-Schriftzug streift, endet in einer Klinik. Amira (Yasmine Al Massri) verrichtet dort im Kittel ihren Dienst, ehe das Geschehen ins syrische Aleppo springt und das auch visuell besonders herausragende erste Kapitel startet: Es heißt „The Doctor“ und bildet den spektakulären Auftakt des Films. Die gelernte pädiatrische Radiologin wird im OP-Saal mit einer Waffe bedroht, ehe die Situation glimpflich endet und sie mit ihrer Tochter Rasha (Massa Daoud) ihre eigene Geburtstagsfeier besucht. Auch dort entgeht sie dem Tod nur knapp: Das Haus wird ausgebombt, ihre Verwandten sterben in den Trümmern und die beiden fliehen notgedrungen in einem Kofferraum. Dramatische Bilder zu düsterem Dröhnen und Donnern, die gerade im Kinosaal ihre volle Wucht entfalten.

    Ehe der Film den zunächst rätselhaften Moment in Chicago und Amiras Schicksal auf der Zielgeraden mit einer bitterbösen und rührenden Schlusspointe wieder aufgreift, folgen vier packende Kapitel von jeweils etwa 20 Minuten Länge. Brandt Andersen widmet sich darin weiteren Fluchtursachen und erzählt uns von „The Soldier“ Mustafa (Yahya Mahayni), der für Präsident Assad kämpft und sinnlosen Erschießungen beiwohnt. In einem Flüchtlingscamp an der türkischen Küste bietet der wohl selbst aus Afrika geflohene Marwan (Omar Sy) als „The Smuggler“ Schleusertrips an. „The Poet“ Fathi (Ziad Bakri) sieht mit seiner ägyptischen Familie in genau dieser lebensgefährlichen Schlauchboot-Überfahrt die einzige Chance auf eine bessere Zukunft. Und „The Captain“ Stavros (Constantine Markoulakis) sorgt in Diensten der griechischen Küstenwache dafür, dass so viele Geflüchtete wie möglich aus Seenot gerettet werden.

    Ein atmosphärisches Fluchterfahrungs-Puzzle

    Andersen begeht nicht den Fehler, die Trennlinien zwischen Gut und Böse allzu deutlich zu ziehen, obwohl das ein Leichtes wäre. Am deutlichsten offenbart sich dies am verzweifelten Fathi und am opportunistischen Marwan, in dessen Rolle wir den stark aufspielenden „Ziemlich beste Freunde“-Star Omar Sy von einer anderen Seite erleben: Wenngleich sie moralisch auf verschiedenen Seiten stehen, sind sie doch liebende Väter, die nur das Beste für ihren Nachwuchs wollen. Auch den Soldaten Mustafa plagen Gewissensbisse. Kapitän Stavros hingegen opfert sich auf dem Mittelmeer auf und hat schon tausenden Menschen das Leben gerettet – ein Held, möchte man meinen. Sein eigener Sohn hingegen kommt zu kurz, nicht mal für dessen Fußballspiel findet er Zeit.

    Rein strukturell verlangt Andersen uns vor allem in der ersten Filmhälfte einiges ab. Erst mit Ende des zweiten Kapitels begreifen wir, wie es mit dem ersten zusammenhängt. Ähnlich wie in Alejandro González Iñárritus „Babel“ oder Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ wird die episodisch arrangierte Geschichte auch im weiteren Verlauf des Dramas nicht strikt chronologisch erzählt. Einige Schlüsselmomente erleben wir sogar wie dem japanischen Klassiker „Rashomon“ mehrfach aus verschiedenen Perspektiven. Das füllt bisweilen kleinere Leerstellen der auch atmosphärisch unheimlich dichten Handlung: Fragen wir uns in Kapitel 3 noch, warum nur 27 statt 30 Menschen das Schlauchboot besteigen, wird das in Kapitel 4 am Rande aufgelöst.

    Showdown im Sturm

    Die Handlungsfäden laufen schließlich im aufwühlenden fünften Kapitel bei einem Unwetter auf dem Mittelmeer zusammen – das Drama findet in einem peitschenden Sturm seinen Höhepunkt und wir begreifen endgültig (wenn wir es denn noch nicht begriffen haben), was es konkret heißt, sein Leben und das seiner Familie in die Hände skrupelloser Schleuser zu geben. Beinahe grotesk wirkt da eine Unterhaltung, der Stavros beim Abendessen beiwohnt und bei der Sätze wie „Viele von denen sind Terroristen!“ oder „Die riskieren doch nicht einfach so ihr Leben!“ fallen. So oft man solche Stammtischparolen auch schon in Kommentarspalten gelesen oder von rechten Hetzern gehört haben mag: In diesen Momenten macht „The Strangers‘ Case“ traurig und unheimlich wütend.

    Der Film ist damit in seiner Botschaft unmissverständlich, wenngleich die verschiedenen Handlungsstränge keine wirklich neuen Sichtweisen auf die Fluchtursachen offenbaren. Das scheint aber auch nicht das Ziel zu sein: Andersen schärft unseren Blick dafür, welche traumatischen Erfahrungen Geflüchtete oft durchmachen mussten und wie groß ihre Verzweiflung sein muss, um den lebensgefährlichen Weg nach Europa anzutreten. Die bereits erwähnte, bitterböse Schlusspointe in Chicago ist als beklemmender Abgesang auf den Einstieg in den Arbeitsmarkt auch ein klares Werben dafür, das Potenzial von ausländischen Fachkräften doch endlich zu nutzen – eine Herausforderung, die auch hierzulande in Bürokratie erstickt, während die Not der Betriebe immer größer wird.

    Fazit: Shakespeare wäre stolz gewesen: Brandt Andersen richtet den Scheinwerfer in seinem erschütternden Fluchtdrama „The Strangers' Case“ auf Schicksale, die im 21. Jahrhundert Millionen Menschen auf der ganzen Welt erleiden – und hält damit ein flammendes Plädoyer für mehr Menschlichkeit.

    Wir haben „The Strangers‘ Case“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo der Film als Berlinale Special Gala gezeigt wurde.

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