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    Pepe
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Pepe

    Das Nilpferd von Pablo Escobar hat uns eine Menge zu sagen

    Von Patrick Fey

    Es ist in vielerlei Hinsicht reizvoll und riskant, Tiere in den Mittelpunkt eines Filmes zu stellen. Einerseits bedarf es nicht vieler Einstellungen, um mit ihnen das Publikum auf seine Seite zu ziehen. Andererseits — und dies wissen nicht nur jene, die selbst einmal an einem Filmset waren — führt es bei den Filmschaffenden schnell zu Frustration, wenn sich das Tier nicht an die fein durchdachten Regieanweisungen halten mag. Denn wenn sich das Tier nur in begrenztem Ausmaß seiner selbst bewusst sein kann, wie lässt es sich dann von ihm erwarten, eine Rolle zu spielen? Die Antwort, die Regisseur und Drehbuchautor Nelson Carlo de los Santos Arias in seinem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Pepe“ auf diese Frage findet, ist nicht neu; sie wirkt ob ihres offenen Anachronismus‘ gar befremdlich: Voice Over.

    Den meisten, die die 1990er Jahre durchlebt haben, werden beim Stichwort ‚sprechende Tiere‘ doch unweigerlich mehr oder minder komödiantische Familientitel à la „Ein Schweinchen namens Babe“ oder „Dr. Dolittle“ vor Augen schweben. Doch so anachronistisch de los Santos Arias‘ Voice-Over-Einsatz in „Pepe“ auch anmuten mag, so entschieden verbittet sich ein Vergleich zum 90er-Jahre-Klamauk. Denn die Welt, von der uns das Flusspferd Pepe in diesem collagehaften Essayfilm eingangs zu erzählen beginnt, ist eine gänzlich andere. Ob diese in ihrer Beschaffenheit der unseren entspricht, bleibt bis zuletzt nicht ganz eindeutig. Zumindest aber, dass sie der unseren näher ist als jene, die wir in den 1990er-Jahre-Komödien präsentiert bekommen, leuchtet schnell ein.

    Monte & Culebra
    Pepe hat uns eine ganze Menge zu sagen – mit lustigen Cartoons haben seine düsteren philosophischen Monologe allerdings nichts zu tun.

    Ein Weg, über „Pepe“ zu sprechen, führt über Pablo Escobar, der es noch weit über seinen Tod hinaus bis ins Heute versteht, seinem Heimatland Kolumbien gravierende Probleme zu bereiten. Auf dem Gelände seiner Ranch, „der Hacienda Nápoles“, hatte Escobar seinerzeit neben einem Privatflughafen und einer Formel-1-Rennbahn auch einen eigenen Zoo installiert, deren Verantwortlichkeit nach seinem Tod im Jahr 1993 an die kolumbianische Regierung überging. Und so war es also an Vertreter*innen dieser Regierung, den Zoo aufzulösen und mitsamt der vier Hippos, die Escobar einst aus US-amerikanischen Zoos nach Kolumbien geschmuggelt hatte, umzusiedeln.

    Allerdings hatten sich die Flusspferde zu diesem Zeitpunkt bereits ausnehmend arrangiert mit ihrer unverhofften neuen Heimat entlang des Rio Magdalena, fanden sie in dessen Einzugsgebiet doch noch weitaus bessere Lebensbedingungen als in der afrikanischen Heimat. Man kann sich auch einfach so durch den immer wieder vom geradlinigen Pfad abschweifenden „Pepe“ treiben lassen. Weiß man aber um Pepe — eines dieser vier Escobar‘schen „Kokain-Hippos“ — so erschließt sich die Struktur des Films auf intuitive Weise. Auf Anordnung der lokalen Behörden hin wurde das Hippo 2009 erschossen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits herauskristallisiert, dass die Flusspferde, nicht zuletzt aufgrund ihrer rasanten Reproduktion und rücksichtsloser Defäkation, zur Gefahr für die lokale Flora und Fauna geworden waren.

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    In ihrer neuen kolumbianischen Heimat ist das Leben für die Nilpferde viel leichter als in Afrika – und gerade das macht sie so gefährlich für die örtliche Flora und Fauna.

    Wie bereits in Lea Hartlaubs faszinierendem Essayfilm „SR“, der die Giraffe ins Zentrum ihrer Reflexion über die moderne Menschheitsgeschichte stellt, bietet nun auch Nelson Carlo de los Santos Arias eine multiperspektivische und fragmentarische Erzählweise über die Irrwege der Moderne. Anders aber als bei Hartlaub gibt sich „Pepe“ ganz den schier grenzenlosen Mitteln der Fiktion hin, durch die er unsere Realität durchscheinen lässt. Durch die Integration von Archivmaterial und verschiedener Bildformate kommt dies, wie schon in de los Santos Arias‘ Vorgängerfilm „Cocote“, bisweilen gar collagenhaft daher.

    Berlinale-Kreativdirektor Carlo Chatrian hatte wohl auch deshalb angemerkt, dass es sich bei „Pepe“ um den am schwierigsten zu klassifizierenden Film des 2024er-Wettbewerbs handele. Zu Beginn etwa befinden wir uns in einem Wohnzimmer, wo auf einem alten Röhrenfernseher „Pepe Pótamo“ läuft, die spanische Fassung des 60er-Jahre-Cartoons Peter Potamus. Noch ehe wir uns aber zu sehr in der Kinderserie verlieren können, werden wir durch einen Programmwechsel aus der zweidimensionalen, bunten Kinderwelt gerissen. Zu sehen ist ein Nachrichtenprogramm, das vom Tod Pablo Escobars berichtet. Ob es Frieden geben werde, nun, da der Drug Lord gefasst wurde, wird dort eine Bürgerin gefragt. Ihre schlichte, gleichwohl hellsichtige Antwort: Nein!

    Viel Schönheit – und trotzdem lässt die bedrohliche Atmosphäre nie nach

    Wie um die Frau zu bestätigen, hören wir in der nächsten Szene eine laut tönende Aneinanderreihung von Maschinengewehrschüssen, die allmählich in ein musikalisches Trommeln übergehen. Gemeinsam mit den Hubschraubern, die wir eingangs lediglich hören, ohne sie direkt zu Gesicht zu bekommen, entsteht so ein beunruhigendes Hintergrundgeräusch, das die Atmosphäre des Filmes auch in jenen Szenen zu bestimmen scheint, in denen es nicht auftritt. Entgegen dieser bedrohlichen Soundkulisse ist Nelson Carlo de los Santos Arias‘ vierter Spielfilm von größter Schönheit. Dass sich viele Filmemacher*innen für die Farbübergänge bei Sonnenauf- und Untergang sowie die Lichtkontraste bei Gewitter interessieren, ist kein Geheimnis. Doch in solch natürlicher Pracht wie in „Pepe“ hat man sie nur selten auf Film gebannt gesehen.

    Hinzu kommen die Aufnahmen der Flusspferde, wenn die Kamera scheinbar schwerelos über das Wasser schwebt. Wenn sie sich langsam den herausragenden Köpfen der Hippos annähert, mitunter gar mit ihnen untertaucht in das trübe Blaugrün des vermeintlichen Rio Magdalena (de los Santos Arias filmte hauptsächlich in der Dominikanischen Republik und Namibia). In einer Episode des Filmes, die einem Handlungsstrang im traditionellen Sinne vermutlich am nächsten kommt, befinden wir uns auf dem kleinen Motorboot eines Fischers, der nichts ahnend seine Netze im Fluss auswirft und von einem Flusspferd angegriffen wird.

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    Pepe und seine Artgenoss*innen treten die unfreiwillige Reise in Richtung Kolumbien an, um einem Drogenbaron seinen absurden Privatzoo-Traum zu erfüllen.

    „Pepe“, so sagt es der Regisseur, sei die Geschichte eines Flusspferdes, das sich eines Tages in die Welt aufmache auf der Suche nach etwas, das noch nicht existiere. Und das schließlich sterbe, ohne zu wissen, wo es ist. Dieses Gefühl der Verlorenheit überträgt sich unweigerlich auch auf uns Zuschauer*innen, denn was es nun mit dem Fischer genau auf sich hat — wie er heißt, wo genau er lebt, zu welcher Zeit sich die Ereignisse zutragen — verbleibt Andeutung. Und doch misst Nelson Carlo de los Santos Arias ihm entschieden mehr Bedeutung zu als dem Rest seines randständigen Figurenpersonals, wenn er, über ein paar Minuten hinweg, im Leben des Anglers verweilt. Er verfolgt ihn nach Hause, wo er seiner Frau erzählt, er sei von einem riesigen Tier angegriffen worden, und fängt auch den daraus resultierenden Ehestreit ein, als der Fischer die Geschichte von seiner Frau angezweifelt sieht.

    Als die beiden sich letztlich gemeinsam in das Motorboot setzen, um das Tier aufzusuchen, und wir befinden müssen, dass sie wohl die falsche Route eingeschlagen haben, wendet sich die Kamera von ihnen ab und führt langsam hin zu einem in der Ferne sich dunkel abzeichnenden Fleck auf dem Wasser, der sich wenige Augenblicke später als Flusspferdkopf herausstellt. Die Kamera beweist sich in diesem Moment als wahrlich autonom, als losgelöst von der Handlung. Sie unterstreicht eines der Leitmotive des Films, das wir Pepe Mitte des Films kontemplieren hören: dass wir, über die Dauer unseres Lebens, immer wieder ein „sie“ konstruieren. Ein „sie“, das wir, in ständig wechselnden Konstellationen und in Abgrenzung zu „uns“, konstruieren.

    Dieses Denkmuster, das die Trennung auf dem Fluss illustriert, als die Eheleute und wir getrennter Wege gehen, ist auch in einer der komischsten Szenen des Filmes zu sehen, in der wir eine touristische Gruppe auf Bus-Safari begleiten. Eine Einblendung zuvor hat uns bereits darauf hingewiesen, dass wir uns in „Südwestafrika“ (in der deutschen Schreibweise), dem heutigen Namibia, befänden. Der Reiseführer, den die Reisenden—beinahe allesamt im Rentenalter — bei sich führen, ist zwar von 1978, das sei allerdings gar nicht schlimm, versichert ihnen der deutschsprachige Touri-Guide. Seitdem habe sich nicht wahnsinnig viel verändert. Sie täten allerdings gut daran, nicht übermäßig freundlich zu den „Einheimischen“ zu sein, diese würden sonst schnell etwas von ihnen wollen. Mit solch bitter-bösem Humor verwebt Nelson Carlo de los Santos Arias auf diese Weise die deutsche Kolonialvergangenheit mit dem den Film durchziehenden Thema „‘Wir‘ gegen ‘sie‘“. Am Ende verbleibt die Frage, ob, und wenn ja, wie aus diesem Paradigma auszubrechen ist.

    Fazit: Überbordend von künstlerischer Ambition wartet der dominikanische Regisseur Nelson Carlo de los Santos Arias in seinem Berlinale-Wettbewerbsfilm „Pepe“ mit spektakulären Bildern auf. Ins Zentrum seines fragmentarischen Narratives über die großen Verfehlungen der westlichen Moderne stellt er das Flusspferd Pepe, das selbst die Erzählung übernimmt und sich bewusst von breitgetretenen Pfaden konventioneller Geschichtserzählung abwendet.

    Wir haben „Pepe“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.

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