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    Elf Mal Morgen: Berlinale Meets Fußball
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    1,0
    schlecht
    Elf Mal Morgen: Berlinale Meets Fußball

    Immerhin spricht niemand von Graugänsen

    Von Jochen Werner

    Der deutsche Fußball steckt am Anfang des Jahres 2024, wenige Monate vor dem Beginn der Europameisterschaft im eigenen Land, in einer tiefen Krise. Die Nationalmannschaft der Männer fängt auch unter dem vierten Trainer in drei Jahren einfach nicht wieder an zu gewinnen. Das Vertrauen in die Institutionen FIFA und DFB ist durch Korruptionsskandale, Vetternwirtschaft und allerlei Geschäftemacherei unter Inkaufnahme des kompletten Kontaktverlusts zur sogenannten „Basis“ – also den Fans, vor Ort in den Stadien oder von den Fernsehschirmen – womöglich irreparabel beschädigt. Und selbst der Frauenfußball, der lange von den eigenen großartigen Leistungen wie vom wachsenden Unmut über die maskuline Konkurrenz zu profitieren schien, leistete sich zuletzt eine eigene WM-Blamage nebst allerlei Zwischentönen rund um die Demission der Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg.

    Mitten in diese Dauerkrise hinein wird nun mit dem Anthologiefilm „Elf Mal Morgen – Berlinale Meets Fußball“ ein Film veröffentlicht, der eindeutig der deutschen PR-Strategie zur Vorbereitung des Sport-Großereignisses im Sommer zuzuordnen ist. Wir erinnern uns: Auch das „Sommermärchen“ der WM 2006 wurde von einer groß angelegten Imagekampagne zur Förderung der Identifikation mit der Männer-Nationalmannschaft vorbereitet: Bereits drei Jahre vorher wurde mit „Das Wunder von Bern“ ein melodramatisches Kostümfilmspektakel mit großem Erfolg in die Kinos gebracht – eine aufwendige Produktion von Sönke Wortmann, der dann auch gleich zum offiziellen Dokumentaristen der Klinsmann-Nationalelf ernannt wurde und sowohl im „Wunder von Bern“ als auch im später folgenden Dokumentarfilm „Deutschland. Ein Sommermärchen“ eher die Klaviatur des Propagandafilms bespielte als die des Sportfilms.

    Internationale Filmfestspiele Berlin
    „Elf Mal Morgen“ stellt Fußballmannschaften abseits des üblichen Männer-Bundesliga-Bildes in den Mittelpunkt – hat aber kaum Zeit, sich auf diese dann auch tatsächlich einzulassen.

    Überhaupt ist das ja eine interessante Beobachtung: Während der Sport im Allgemeinen und der Fußball im Besonderen im deutschen Alltag eine riesige, nicht wegzudenkende Rolle spielen, kommen sie im deutschen Kino fast nicht vor – und wenn, dann geht es in den entsprechenden Filmen meist nur vordergründig um Sport. Sönke Wortmann etwa inszenierte in seinen beiden großen Fußballfilmen zuerst die demonstrative Versöhnung mit der Generation der Nazi-Mitläufer-Väter und dann den plötzlich wieder erlaubten Nationalstolz im neuen, wiedervereinigten Deutschland im Sinne eines großen Nationbuilding-Projekts – elf Freunde müsst ihr sein, und die elf Männer dort auf dem Platz repräsentieren euch und uns alle, so schien die Aussage, und die junge, spielfreudige und durchaus diverse Mannschaft eignete sich perfekt dazu, diese neue Leichtigkeit und Vielfalt zu repräsentieren.

    Dass so manch einer, der damals als Leistungsträger voranging und als Galionsfigur nach vorne geschoben wurde, heute aus juristischen (Jérôme Boateng) oder politischen (Mesut Özil) Gründen längst wieder zur Persona non grata geworden ist und die Diversität der Gesellschaft mit dem Aufstieg der AfD generell zunehmend unter Beschuss gerät, lässt Sommermärchen, Klinsmann-Optimismus und Party-Patriotismus allerdings heute schon wie eine Erzählung aus einer anderen, versunkenen Welt erscheinen.

    Ein Weg raus aus der Sackgasse

    Vielleicht folgerichtig bringen die Berlinale und die Münchner Hochschule für Fernsehen und Film nun in Zusammenarbeit mit der Philipp Lahm Stiftung ein ganz anders geartetes Projekt an den Start, um das Image des deutschen Fußballs zu pflegen. In elf Kurzfilmen gehen Münchner Filmstudent*innen an die Basis, zum Lokalfußball in den Kreis- und Jugendligen – und dort ganz besonders zu den Mannschaften, wo sich Spieler*innen zusammenfinden, die so weit wie möglich vom inzwischen allzu negativ besetzen Bild des international kickenden Multimillionärs auf dem Platz entfernt sind. Beim Thema Fußball habe sie früher immer an grölende Männer gedacht, und an Cristiano Ronaldo, der im Privatjet nach Saudi-Arabien fliegt, so erzählt eine gesichtslose Frauenstimme im Prolog. Aber inzwischen sei sie überzeugt, dass diese Zeit zu Ende gehe und dass dann im Fußball etwas Neues entstehe. Auch ein Nationbuilding-Projekt also, ein Rebuilding oder Newbuilding des in der Sackgasse feststeckenden Fußballs.

    Im Sinne dieses Rebuildings lernen wir in den folgenden gut 100 Minuten elf Fußballmannschaften mit besonderen Merkmalen jenseits der Stereotypen des professionellen Männerfußballs kennen. Mädchenmannschaften, natürlich. Ein geschlechtlich gemischtes Team aus blinden und sehbehinderten Spieler*innen. Eine sorbische Mannschaft, die sich hartnäckig in der sächsischen Landesliga hält. Der deutsch-jüdische Verein Maccabi München steht neben migrantisch gegründeten und geprägten Vereinen wie Türkiyemspor Berlin oder Al-Hilal Bonn.

    Auch der linkspolitisch engagierte, queere Fanclub Proletik Sonnenberg des fast gleichnamigen Chemnitzer Kreisligavereins Athletic, der sich inmitten eines von rechten Strukturen geprägten Umfelds für Vielfalt und Toleranz einsetzt, findet seinen Platz in diesem Panoptikum – und am Ende videotelefoniert ein geflüchteter ukrainischer Junge, der nicht nur in Deutschland, sondern auch im polnisch-hamburgischen Fußballverein Polonia aufgenommen wurde, mit dem Papa in Donezk, der die heroischen Soldaten an der Front mit dem Einbau von Wasserboilern unterstützt.

    Für Dinge abseits der Message bleibt keine Zeit

    Im Grunde also ein Projekt mit einer ganzen Reihe von Protagonist*innen, die einiges an Biografie mitbringen und über die man gerne mehr erfahren würde. Das Problem von „Elf Mal Morgen – Berlinale Meets Fußball“ ist jedoch, dass das von vornherein gar nicht vorgesehen ist. Denn durch die Schnipselstruktur des Projekts, das jeder Mannschaft gerade mal ein, zwei Handvoll Minuten Zeit gibt, ist im Grunde von Anfang an sichergestellt, dass keiner dieser elf Filme mehr kommuniziert als die These, die dem ganzen Filmprojekt bereits vorangestellt wurde. Fußball ist divers, er verbindet Menschen unterschiedlichster Herkunft, und der Zusammenhalt im Team ist ganz wichtig. Nicht falsch, aber auch nicht eben abendfüllend.

    Und eine Form hat leider fast keiner der hier kompilierten Kurzfilme. Am besten kommen noch die Filme davon, die Spurenelemente eines grundlegenden Dokumentarfilmhandwerks aufweisen und sich darum bemühen, ihre Protagonist*innen einfach ein paar Minuten lang in ihrem Mannschaftsalltag zu zeigen. Wenn ästhetische Ideen dazukommen, Fallrückzieher in Zeitlupe auf dem Trampolin performt oder sächsische Dorfbäche gefilmt werden, als wären wir in einem Tarkovskij-Film, wird es meist eigentlich eher schlimmer.

    Mehr aneinandergereihte Werbespots als ein "echter" Film

    Wobei besagte Zeitlupenaufnahmen eigentlich auf eine richtige Spur führen, wenn sie an Werbespots großer Sportmarken erinnern. Denn im Grunde verbietet es sich, dieses Filmprojekt überhaupt mit den Maßstäben eines Kinofilms zu betrachten, und auch die Form des Kurzfilms ist eigentlich bereits zu hoch gegriffen. Bei den hier zusammengestellten Filmen handelt es sich um Werbefilme, und das beworbene Produkt sind einerseits die Wertvorstellungen, die im Rahmen der deutschen Gesellschaft gerne und regelmäßig am Fußball und dem Sport im Allgemeinen festgemacht werden. Und dann, einen Schritt über diese Imagepflege hinaus weitergedacht, eben die Fußball-Europameisterschaft 2024.

    Dass diese noch einmal zu einem Sommermärchen analog 2006 gerät, erwartet derzeit wohl kaum noch jemand. Und ob „Elf Mal Morgen – Berlinale Meets Fußball“ der Film ist, der die Stimmung in Fußballdeutschland auf den letzten Metern noch einmal herumzureißen vermag, darf doch arg bezweifelt werden. Aber anders als in der auf ganz andere Weise missratenen WM-Doku „All Or Nothing: Die Nationalmannschaft in Katar“ spricht hier wenigstens niemand über Graugänse.

    Fazit: Um einen Film handelt es sich hier eigentlich nicht, eher um ein elf Kurzfilme umfassendes Werbeprodukt zur Imagepflege des deutschen Fußballs kurz vor der Europameisterschaft 2024 im eigenen Land. An den Protagonist*innen liegt es jedenfalls nicht, dass „Elf Mal Morgen“ so uninteressant geraten ist, sicher bringen viele von ihnen erzählenswerte Geschichten mit. Aber hier geht es um nichts weiter als die Illustration einer These, und das genügt einfach nicht für 100 Minuten Kino.

    Wir haben „Elf Mal Morgen – Berlinale Meets Fußball“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo der Film seine Weltpremiere gefeiert hat.

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