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    Gloria!
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Gloria!

    Mehr Coppola wagen!

    Von Jochen Werner

    Der Maestro ist gehörig abgewrackt. Einst war der Kapellmeister Perlina (Paolo Rossi) auch als Komponist berühmt, doch inzwischen begnügt er sich damit, Messe für Messe mit dem Orchester des Mädchenwaisenhauses von Sant‘Ignazio dieselben ollen Kamellen halbherzig herunterzudirigieren. Die eigentliche Musik, so deutet „Gloria!“ bereits in den allerersten Minuten an, spielt sich draußen ab – und wird auch von denen, die sie machen, gar nicht unbedingt als solche erkannt. Aus den alltäglichen Verrichtungen der Köchinnen, Mägde und Haushälterinnen – dem Polieren der Krüge polieren, dem Schöpfen des Wassers, dem Fegen des Fußbodens – entstehen Rhythmen und beinahe Melodien, die weit lebendiger klingen als die dröge Kirchenmusik, die die Gläubigen drinnen sichtlich gelangweilt über sich ergehen lassen. Das macht direkt Lust auf mehr, aber daraus dann eine richtige Musicalszene zu machen, traut sich „Gloria!“ dann doch nicht und so geht es eben erstmal weiter im Plot.

    Aus dem Quasi-Ruhestand wird der Maestro aufgeschreckt, als der frisch berufene Papst Pius VII. einen Besuch der kirchlichen Musikschule ankündigt. Eine neue Komposition muss her, ein letztes Meisterwerk. Doch vor dem blanken Notenpapier stellt Perlina schnell fest, dass er keine einzige originelle Note mehr in sich hat. Ganz anders geht es hingegen den jungen Musikschülerinnen, allen voran der stummen Magd Teresa (Galatéa Bellugi). Die findet des Nachts in einem Keller ein Klavier, auf dem sie zunächst noch spielerisch, dann immer entschlossener herumzuklimpern beginnt. Zunächst allein, dann mit einer Gruppe anderer Schülerinnen, die die Außenseiterin zunächst noch verspotten. Von der ihnen eigentlich verbotenen Kreativität zusammengeschweißt, werden sie bald zur verschworenen Clique – und die Musik, die sie spielen, klingt so ganz anders als alles, was das frühe 19. Jahrhundert je gehört hat…

    tempesta srl
    Kapellmeister Perlina (Paolo Rossi) hat’s schon lange nicht mehr drauf!

    Das Regiedebüt der auch als Schauspielerin (u.a. in Woody Allens „To Rome With Love“) bekannten italienischen Elektropopmusikerin Margherita Vicario erzählt von einer musikalischen Kulturrevolution. Teresa und ihre Freundinnen jammen nämlich nicht nur geradezu jazzartig vor sich hin, anstatt nach akademisch-mathemathischen Regeln klassische Kompositionen zu bauen. Nein, noch viel skandalöser scheint es, dass sie ihre eigenen Gefühle in Songtexte kleiden, statt immer nur dieselben religiösen Hohelieder aufzuführen. Das Mittel der Wahl ist für Vicarios Film ein gezielter Anachronismus, denn eigentlich erzählt sie in „Gloria!“ von der Geburt der Popmusik – vom Aufbruch der Musik aus dem Institutionellen heraus und hinein in den Individualismus.

    So richtig poppig gerät ihr das allerdings nicht. Eher verbleibt „Gloria!“ über weite Strecken auf dem zwar durchweg solide inszenierten, aber auch ein wenig faden Terrain des Wohlfühl-Arthousekinos. Auf diesem erzählt er dann alles weitgehend so herunter, wie man das eh schon von vornherein erwartet: Es gibt eine gerade noch verhinderte Zwangsheirat mit einem greisen Witwer, einen klerikal vertuschten sexuellen Missbrauch nebst Schwangerschaft und Kindesentzug, eine unglückliche Liebe plus Suizidversuch – und all das wirkt wie direkt aus dem Handbuch für Kostümdramen übernommen.

    Poppig ist was anderes

    Erst kurz vor Schluss treibt Vicario das durchaus stereotype Spiel dann doch noch ein Stückchen weiter, als man an diesem Punkt im Film vielleicht vermutet – und dann steht auch schon das Schlusskonzert an, das im (Kino-)Publikum unerwartete Energien freisetzt und den Papst zutiefst schockiert. Man freut sich, aber poppig ist dann doch was anderes, und im Grunde ist diese schöne Schlussszene – die dann überdies in ihrer Wirkung von einem etwas antiklimaktischen Epilog direkt wieder heruntergedämpft wird – dann auch schon zu wenig zu spät.

    Man kann sich ja überhaupt schon seit einiger Zeit fragen, warum es eigentlich das junge, feministische Kino inhaltlich zuletzt so regelmäßig und vehement ins 19. Jahrhundert zog. Von Céline Sciammas wuchtigem Liebesdrama „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ über Greta Gerwigs „Little Women“-Adaption bis hin zu Frances O’Connors Brontë-Biopic „Emily“ lag es anscheinend allgemein in der Luft, weibliche Ermächtigungsgeschichten vor allem im historischen Gewand statt in der Gegenwart zu erzählen. Natürlich drückt sich darin ein Bedürfnis aus, den Heldinnen der Vergangenheit ein Denkmal zu setzen – eine Absicht, die sich ganz direkt in „Gloria!“ einschreibt, widmet Vicario ihr Debüt doch explizit all jenen begabten, vergessenen Musikerinnen der Vergangenheit, deren Kreativität sich nie wirklich entfalten durfte und deren Kompositionen nur sehr spärlich überliefert wurden.

    tempesta srl
    Die musikalischen Waisenmädchen schmieden ihren eigenen geheimen Plan, um den Papst gebührend zu empfangen.

    Ein ehrenwertes Unterfangen, gewiss, aber so ganz und gar lässt sich auch der Gedanke nicht wegdrücken, ein solcher Rückzug in den Historienfilm brächte auch ein eskapistisches Moment mit sich. Und ob nun der Megaerfolg von „Barbie“ stilbildend wird für eine neue Welle dieses feministischen Mainstreamfilms, der sich nun expliziter auf eine kontemporäre Pop-Ästhetik einlässt, bleibt ja ohnehin noch abzuwarten.

    Das anachronistische Pop-Versprechen, das ihm auch eingeschrieben ist, löst „Gloria!“ jedenfalls eigentlich nie ein. Dafür ist er nicht kontemporär genug, nicht anachronistisch genug, nicht poppig genug. Mehr Arthouse als Acid House. Nein, ein „Marie-Antoinette“ ist das hier nicht, und im Grunde – was den Punkrock-Faktor angeht – noch nicht einmal ein „Corsage“. Vielmehr ein Film über die Kraft des Regelbruchs, der selbst viel zu sehr dem Regelbuch des geschmackvollen Themenfilms folgt. Schade eigentlich, charmant und solide ist „Gloria!“ nämlich durchaus, aber ein bisschen mehr Sofia Coppola und ein bisschen weniger Betulichkeit hätten ihm definitiv gutgetan.

    Fazit: Die brave und gar nicht uncharmante Geschichte um eine Clique von Waisenmädchen, die am Klavier rebellische Energien freisetzen. Nur übertragen sich diese nicht wirklich auf den letztlich kreuzbraven Kostümfilm. Der liefert am Ende zwar grundsolide Arthouseware, vom Regiedebüt des italienischen Popstars Margherita Vicario hätte man sich allerdings etwas mehr Glamour erhofft.

    Wir haben „Gloria!“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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