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    Dicks: Das Musical
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Dicks: Das Musical

    Das wohl erste Musical mit fliegenden Geschlechtsteilen

    Von Janick Nolting

    Die ach so schillernde Welt der Broadway-Musicals ist ein dankbares Angriffsziel. Weite Teile von ihr stehen eben nicht nur für große Emotionen und glamouröses Spektakel, sondern ebenso für eine gänzlich kommerzialisierte, meist prüde und konservativ angehauchte Konsumkultur, von einigen positiven Ausreißern einmal abgesehen. Zeit also, dass sich mal wieder jemand que(e)rstellt! Aaron Jackson und Josh Sharp blasen mit „Dicks: Das Musical“ zum Angriff auf den Musical-Einheitsbrei. Zumindest in der Theorie. Gemeinsam mit Regisseur Larry Charles, bekannt für seine kontrovers diskutierten Sacha-Baron-Cohen-Filme „Borat“, „Brüno“ und „Der Diktator“, bringen sie eine queere musikalische Groteske auf die Leinwand.

    Mit allerlei Lust am Obszönen positioniert sich ihr Film gegen Spießigkeit und starre Normen. Er will beides sein: Musical-Parodie und Abrechnung mit gestrigen gesellschaftlichen Rollenbildern. Was aber auf einer Off-Broadway-Theaterbühne, wo „Dicks“ noch unter dem Titel „Fucking Identical Twins“ seinen Anfang nahm, vielleicht noch zündete, stößt in Spielfilmform allerdings schnell an seine Grenzen. In der Praxis wird daraus ein Werk, das trotz allerlei anarchistischem B-Movie-Charme seine angriffslustigen Ideen etwas überschätzt.

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    Die Komiker Josh Sharp und Aaron Jackson haben das Musical selbst geschrieben – und spielen darin auch die Hautrollen.

    Am Beginn dieses Filmmusicals steht eine Warnung: „Dicks: Das Musical“ wurde von zwei Homosexuellen geschrieben, die noch dazu zwei Heterosexuelle spielen. Eine solche Warnung ist sinnvoll, um die Hetero-Drag-Nummer im Zentrum des Films zu etablieren und zu rahmen. Zugleich bietet sie einen Vorgeschmack auf den eher pseudo-provokanten humoristischen Tonfall, bei dem man sich wiederholt fragt, wann queeres Kino eigentlich so müde und kalkulierbar geworden ist. Echte Schlagkraft entwickeln seine Seitenhiebe nämlich selten.

    Josh Sharp und Aaron Jackson spielen dabei das Zerrbild heterosexueller Alphamänner: Craig und Trevor sind zwei erfolgreiche, großkotzige Sales-Manager, die glauben, dass ihnen die Welt zu Füßen liegt. Als die beiden eines Tages das Geheimnis ihrer Ähnlichkeit erkunden und herausfinden, dass sie Zwillinge sind, setzen sie alles daran, ihre Familie nach all den Jahren wieder zu vereinen. Also muss zunächst ein Plan her, die getrennten Eltern zusammenzubringen. Bei Mutter (Megan Mullally) und Vater (Nathan Lane) angekommen, warten jedoch bereits die nächsten Überraschungen.

    Zotiges B-Musical

    Das Schaffen eines rührseligen Familienidylls, von dem die Popkultur (auch auf Musical-Bühnen) immer wieder träumt, aus der Sicht zweier Scheusale zu erzählen, ist eine sehr amüsante Idee! Im Grunde besitzt „Dicks: Das Musical“ alle Zutaten, um dieses Happy-End-Narrativ zu zerlegen und in seinen meist engstirnigen Mitteln der Lächerlichkeit preiszugeben. Während sich das Ensemble dabei um Kopf und Kragen singt, stellt sich nur der Eindruck ein, dass dieser Film selbst nicht so recht weiß, wie sich damit eine andere, rebellische Form des Musicals schaffen lässt, der mehr einfällt, als vorrangig auf Songtexte mit Fäkalhumor zu setzen.

    Bombast und kunstvolle Choreografien gibt es kaum zu sehen – höchstens eine skurrile Low-Budget-Version davon. Larry Charles inszeniert die Tanz- und Gesangsnummern in reduzierten Kulissen und mit überschaubarem Personal. In der Tat wäre es wohl höchst unterhaltsam, einmal ein Musical auf die Leinwand zu bringen, das konsequent vom Unperfekten, Spärlichen, vom Austesten oder gar bewussten Scheitern lebt.

    Ein solches selbstreflexives Level erreicht „Dicks“ allerdings nie, weil seine musikalischen Einlagen irgendwo im Dazwischen versanden. Zu aufwändig für einen Kahlschlag, oft zu ungelenk für die großen Höhepunkte, an denen er sich versucht! Eine Vielzahl der Musicalnummern erscheint damit recht beliebig arrangiert. Wenn die Rapperin Megan Thee Stallion als Chefin der Protagonisten singend Männer an der Leine führt, ist das Fanservice, aber auch nicht viel mehr als generische Musikvideo-Ästhetik mit altbekannten Gesten.

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    Mit Nathan Lane und Megan Mullally spielen zwei Broadway-Ikonen die Eltern.

    Zugegeben: Ein paar dieser Höhepunkte wissen mitzureißen! Wenn eine Vagina ein Eigenleben entwickelt und fröhlich durch die Luft flattert, ein Liebesduett ein ganzes Restaurant zerlegt und inzestuöser Sex zu akrobatischen Höchstleistungen anspornt, wird endlich das Maß an Irrwitz und Exzess erreicht, das für die gesamte Laufzeit wünschenswert gewesen wäre. In solchen Momenten spielt „Dicks“ schamlos mit dem Körper als Zentrum der Musical-Kunst, seinen Ekstasen und Trieben, aber auch seiner Unbeholfenheit, die beste Voraussetzung für zünftigen Slapstick bietet.

    Josh Sharp und Aaron Jackson spielen all das mit ausgestellter Künstlichkeit, überbetonten Ausdrücken und Grimassen. Wo ihre vorgeführte Männlichkeit im Alltag die Selbstdisziplinierung sucht, wählen sie das Überdrehte, nervös Entfesselte als Kontrast. Doch auch hier zeigt sich eine ernüchternde Inkonsequenz, die gefühlt nur bis zum Naheliegendsten denkt. Um das Entstehen und Performen von toxischer Männlichkeit tatsächlich zu zerlegen und filmisch zuzuspitzen, bedürfte es einer viel offeneren, prozessorientierten Spielpraxis. So bleibt es allein beim Aufzeigen erwartbarer Resultate und Behauptungen. Nach all der Zeit, in der sich Kino mit Geschlechterdiskursen befasst, haben sie längst ihre eigenen Klischees beflügelt, mit denen „Dicks“ nur offene Türen einrennt.

    Wohin mit queerem Kino?

    Wenn stilistisch so wenig Einfallsreichtum dominiert, erscheint auch die finale Liebesbotschaft nur noch als versöhnliche Pflichtübung und Standpauke für alle, die bis dahin noch gar nichts verstanden haben. Von den konventionellen Musical-Strukturen, gegen die man sich hier sträubt, ist das ohnehin nicht allzu weit entfernt. Da nützen auch der neue Kontext und die schwarzhumorige Einfärbung wenig, die allen, der Mehrheit und den Marginalisierten, eine Schelle verpassen will.

    „Dicks: Das Musical“ erscheint in einer Zeit, in der queeres Filmemachen nicht mehr in dem Maße in einer Subkultur verortet ist, wie es noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Umso schwieriger wird es, inmitten all der Geschichten und Genre-Traditionen zündende Ideen zu entwickeln, wie man diese produktiv weiterspinnen könnte. Sowohl bezüglich diverser Theater-Avantgarden, Kino-Experimente, und aktueller Social-Media-Inszenierungen, die zum Teil innovativer Schubladen aufsprengen als dieser Film. Wenn es nur noch nachahmt, übertreibt und alles, sich selbst eingeschlossen, ironisiert, wie es „Dicks“ unternimmt – dann büßt queeres Kino seine Vorkämpferrolle ein. Die Outtakes im Abspann liefern dazu das letzte unnötige Augenzwinkern.

    Fazit: „Dicks: Das Musical“ witzelt fröhlich unterhalb der Gürtellinie und zaubert ein paar unterhaltsam exzessive Szenen auf die Leinwand. Insgesamt ist dieses erste Musical des Erfolgsstudios A24 aber eine ästhetisch beliebige und zu harmlose Provokation.

    Wir haben „Dicks: Das Musical“ im Rahmen der Woche der Kritik 2024 gesehen.

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