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    That Kind Of Summer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    That Kind Of Summer

    Lasst uns (ganz viel) über Sex reden!

    Von Janick Nolting

    Immerhin werden wir vorgewarnt. „Die Zeit könnte sich etwas ziehen“, sagt eine Figur in „That Kind Of Summer“, während sie die Forschungssubjekte und das Kinopublikum auf das bevorstehende Experiment einschwört. Tatsächlich wird dieser Film schnell selbst jegliches Zeitgefühl verlieren, alles findet in einem Delirium statt. Selbst die Räume kann er sich nur schwer erschließen. Denis Côté interessiert sich stattdessen vor allem für Mimik in Großaufnahme. Nachdem der Kanadier zuletzt in „Ghost Town Anthology“ die Geister spuken ließ und in „Sozialhygiene“ ein faszinierendes Schauspielexperiment wagte, geht es dieses Mal um sexuelle Neurosen, die im Inneren brodeln.

    Eine Gruppe Frauen und ein Sozialarbeiter haben sich an einen See kanadischen Nirgendwo zurückgezogen, um über ihr Leben zu sinnieren. Léonie (Larissa Coriveau), Eugénie (Laure Giappiconi) und Geisha (Aude Mathieu) sind von teils nymphomanischen Verhaltensweisen geprägt, jetzt sollen sie sich in einem geschützten Rahmen mit ihren Traumata und Fantasien auseinandersetzen. Keine Behandlung oder Heilung soll damit erreicht werden, der Weg ist vielmehr das Ziel, heißt es gleich zu Beginn sinngemäß. Doch schon bald offenbaren sich die ersten Brüche in den einzelnen Charakteren...

    Die deutsche Psychologie-Doktorandin Octavia (links im Bild: Anne Ratte-Polle) ist als Ersatz für ihre schwangere kanadische Kollegin eingesprungen.

    Dieser Film nimmt einem die Luft zum Atmen – und den Figuren gleich mit. Die Kamera zittert in den ersten Minuten ganz nah vor den Gesichtern herum, auch später kann sie sich kaum von den Körpern lösen. Denis Côté verengt seine Welt bis zum Klaustrophobischen. Die Sonne mag draußen scheinen, aber eine sommerliche Stimmung, wie sie der Titel suggeriert, kommt hier selten auf. Großer psychologischer Ballast muss aufgearbeitet werden. Bereits nach kurzer Zeit kann man kaum noch unterscheiden, ob die weiblichen Heldinnen tatsächlich unter ihren eigenen Innerlichkeiten leiden – oder ob nicht die gesellschaftliche Einengung von außen größer ist, die die Kamera in ihrer körperlichen Bedrängnis und in grobkörnigen Aufnahmen nachempfindet.

    Wer ist hier pervers?

    Recht schnell ist ein Kerngedanke ausgemacht, zu dem Denis Côté in seinem neuen Werk durchdringen will. Das gelingt ihm dann auch viel zu schnell, um eine Laufzeit von stolzen 137 Minuten angemessen zu füllen. Ein Großteil des Films zerfasert in sprunghaften Ideen. Der Begriff der Perversion drängt sich dabei in den Vordergrund: Was bedeutet das überhaupt? In erster Linie ist es ein gesellschaftliches Normverständnis. Wer davon abweicht, hat zu befürchten, als absonderlich oder gar abstoßend markiert zu werden. Die Frauenfiguren von „That Kind Of Summer“ kämpfen gegen dieses Stigma und um die Selbstbestimmung über ihre Gelüste. Auch ihr abgeklärtes Umfeld wird plötzlich von diesem Kampf ergriffen und reflektiert das eigene Leben.

    Man wird ein wenig nostalgisch, wenn man „That Kind Of Summer“ sieht. Permanent erinnert man sich an Lars von Triers zweiteiliges Epos „Nymphomaniac“ zurück, das jedoch in jeder Hinsicht der bessere Film zu Fragen rund um Lust, Perversion und Moralvorstellungen war. Denis Côté fehlt in seiner bedrückenden Inszenierung eine Richtschnur, eine klare Struktur, um diesen Figurenreigen überschauen zu können. Wahrscheinlich wäre eine deutliche Einteilung in Kapitel, in kleine Episoden der konsequentere Weg gewesen. Andauernd springt Côté zwischen Perspektiven und Geschichten hin und her. Alte Geheimnisse, Gespräche, Ausbrüche der Lust und der Frustration werden nach oben geschwemmt. Zu vieles davon schlägt in unterschiedliche Richtungen aus. Zu wenig will sich der recht simpel gestrickten Botschaft fügen, die Côté eine seiner Figuren in letzter Sekunde noch einmal überdeutlich aufsagen lässt. Am Ende kann man selbst die einzelnen Schicksale der Charaktere nur noch mit Mühe und Not auseinanderhalten, so chaotisch ist dieser Film erzählt.

    Ob Austern im Fall eines ohnehin unkontrollierbaren Libido wirklich die beste Idee sind?

    Dabei lässt „That Kind Of Summer“ allerhand Potential erkennen, seine Lusterkundungen auf spannende Art und Weise auszubreiten. Da sind wunderbare Einzelmomente zu finden! Etwa dann, wenn eine der Probandinnen auszieht, um eine ganze Fußballmannschaft zu verführen. Zweimal wagt der Film sogar Abstecher in das Horrorgenre. Einer davon macht dem berüchtigten Spinnenfinale aus Denis Villeneuves “Enemy” ordentlich Konkurrenz. Man will mehr von solchen Sequenzen sehen und weniger von all der schleierhaften Gesprächstherapie!

    Explizite Darstellungen meidet dieser Film überwiegend. Sie brechen nur hier und da in die Handlung. Der Besuch bei einem Bondage-Meister beeindruckt beispielsweise mit ungeheuer intensiven Bildern, bei denen sich menschliches Stöhnen und das Ächzen der Seile, Lust und Schmerz auf unbequeme Weise überlagern. Ebenso schnell wird diese Sequenz wieder abgeschnitten. Ist genau das der Punkt? Ist das eines der zentralen Kalküle, die Côté durchscheinen lässt, das Visuelle des körperlichen Akts verschwinden zu lassen?

    Die Erotik der Worte

    In der Tat ist „That Kind Of Summer“ in erster Linie ein Film über das Erzählen. Immer und immer wieder berichten die einzelnen Charaktere von ihren Experimenten, Verfehlungen, Sexerlebnissen und Ängsten. Erotische Vorstellungen werden teils minutiös geschildert. Man könnte das auch als Selbstbespiegelung des Kinos verstehen, das über die Darstellbarkeit von Sexualität nachdenkt, oder über eine entfremdete Zwischenmenschlichkeit im Zuge der Pandemie – wäre das nicht alles so furchtbar vage und kreiselnd arrangiert. Wo bleibt denn der große Aha-Moment? Wo bleibt die große Rebellion, das Aufbegehren?

    Gut, zum Schluss bessert sich die Laune, es wird sogar getanzt. Côtés Inszenierung und Bebilderung verharrt derweil stur in ihrem Gefängnis. Es gebe kein Fazit, keine Lösung, kein grandioses Ende, stellt eine der Figuren fest. Wieder wird quasi direkt zum Publikum gesprochen. Zum Schluss sind einige buchstäblich in ihre eigene, in eine andere Welt abgetaucht oder endgültig untergegangen. Die anderen bleiben verwirrt und entgeistert zurück – und wir mit ihnen.

    Fazit: Denis Côtés Auseinandersetzung mit Lust und Lustfeindlichkeit besitzt einige intensive, im besten Sinne verstörende Einzelmomente. Letztendlich ist „That Kind Of Summer“ aber zu überladen, zu wirr und eingezwängt erzählt, um aus seiner Enge heraus einen wirklich aufregenden oder erhellenden Befreiungsschlag zu erzielen.

    Wir haben „That Kind Of Summer“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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