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    Wochenendrebellen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Wochenendrebellen

    Viel mehr als nur ein autistischer Junge auf der Suche nach seinem Lieblingsfußballverein

    Von Björn Becher

    Als Mirco von Juterczenka seinem damals sechs Jahre alten Sohn Jason zusagte, mit ihm gemeinsam einen Lieblingsfußballclub zu suchen, konnte der Gastronomie-Manager nicht einmal im Ansatz absehen, was für eine wahnsinnige Geschichte sich aus diesem Versprechen noch entwickeln sollte. Jason ist schließlich Autist und strukturiert seinen Alltag nach ganz klaren Regeln – davon wird auch auf der Suche nach dem Herzensverein keine Ausnahme gemacht! Also muss er erst einmal alle Vereine live in ihren Heimstadien sehen – und das ist nur eine von vielen Herausforderungen. Die so entstandenen Vater-Sohn-Abenteuer dokumentierte Mirco ab 2012 in einem Blog – und der war nicht nur immens populär, sondern gewann auch noch einen Grimme-Online-Award.

    Aber selbst das war noch immer nur der Anfang. Die gemeinsamen Erlebnisse wurden zum Buch und bei ihren vielen Lesereisen sammelten Vater und Sohn bereits über 50.000 Euro für eine Stiftung von Ex-Fußballer Neven Subotic, die arme Regionen in Afrika mit sauberem Wasser versorgt. Während der „echte“ Jason mittlerweile volljährig ist und zur Chaostheorie forscht, erobern er und sein „Papsi“ nun auch das Kino: In „Wochenendrebellen“ erzählen Regisseur Marc Rothemund („Heute bin ich blond“) und Autor Richard Kropf („Kleo“) eine gegenüber der Vorlage zwar stark verdichtete, aber deshalb nicht minder berührende Vater-Sohn-Geschichte. Vor allem mit einem herausragenden Sounddesign geben sie dabei Einblick in die Welt eines klugen und einnehmenden Jungen, in dessen Kopf ein ständiger Krieg tobt.

    Die Filmfiguren (im Vordergrund) treffen im Stadion auf die realen Wochenendrebellen Mirco und Jason (im Hintergrund).

    Der zehn Jahre alte Jason (Cecilio Andresen) ist Autist. Wenn sein in festen Regeln und Routinen organisierter Alltag erschüttert wird, dann stresst ihn das irgendwann so sehr, dass er nicht mehr damit klarkommt – was dann schnell auch seine Umwelt zu spüren (und vor allem hören) bekommt. Da muss nur die kleine Schwester zu sehr mit ihrem Babybrei kleckern oder eine Frau auf „seinem“ Platz an der Bushaltestelle sitzen. Vor allem seine Mutter Fatime (Aylin Tezel) bringen die Ausraster an die Belastungsgrenze, denn die meiste Zeit muss sie sich alleine um Jason kümmern. Schließlich ist ihr Mann Mirco (Florian David Fitz) beruflich die ganze Woche unterwegs. Als es in der Schule mal wieder zum Streit mit Mitschüler*innen kommt und die Versetzung von Jason an eine Förderschule droht, ist klar: Es muss sich etwas ändern!

    Da hilft es, dass sich Jason gerade fragt, warum er eigentlich keinen Lieblingsfußballverein hat. So wird ein Pakt geschlossen: Jason lässt sich in der Schule nicht mehr provozieren, dafür geht sein Papsi mit ihm am Wochenende ins Stadion. Doch Mirco hätte eigentlich ahnen können, dass es nicht ganz so einfach wird. Denn Jason besteht darauf, alle 56 Vereine der ersten drei Ligen in ihren Heimstadien zu sehen – und die Anreise hat aus ökologischen Gründen mit dem Zug zu erfolgen. Während sich Mirco noch fragt, wie sein Sohn, der Berührungen nur schwer aushalten kann und Geräusche ganz anders wahrnimmt, ein volles Fußballstadion überstehen soll, steckt er schon mitten in einem turbulenten Vater-Sohn-Abenteuer – und fängt dabei an, Jason und dessen Sicht auf die Welt immer besser zu verstehen...

    Krieg im Kopf

    Was für eine Herausforderung nicht nur der Besuch der Stadien voll grölender Fans, sondern auch schon die Reisen dorthin sind, macht bereits die erste Fahrt von Mirco und Jason deutlich. Im Zug nach Nürnberg gibt’s im Speisewagen Pasta. Doch an einer Stelle berühren sich die Nudeln und die Soße leicht – ein klarer Verstoß gegen eine sehr wichtige Regel für Jason: Essensbestandteile dürfen auf dem Teller nicht miteinander in Kontakt kommen! Eine Rückgabe ist aber auch nicht möglich, besagt doch eine weitere Regel, dass Essen auf keinen Fall weggeschmissen werden darf. Auch das Angebot des Vaters, die betroffenen Nudeln zu essen, ist keine Lösung. Denn laut einer weiteren Regel teilt Jasons sein Essen nicht.

    Es ist also schlicht ein unlösbares Dilemma, das Jason immer weiter erregt, bis er einfach laut losschreien muss. Am Ende fliegen Vater und Sohn irgendwo im Nirgendwo aus dem Zug. Der Moment unterstreicht ganz wunderbar, was in Jason für widerstreitende Interessen toben. Als zu einem deutlich späteren Zeitpunkt auf einem Bahnhof der Metal-Song „War Inside My Head“ dröhnt, kann der Junge seinem Vater das erste Mal erklären, wie es in ihm aussieht. In seinem Kopf tobe auch ein Krieg. Er wisse selbst, dass damals bei den Nudeln überhaupt keine Lösung alle seine Regeln erfüllt hätte – und trotzdem konnte er nicht von einer einzigen davon abrücken.

    Für das Nudel-Berührt-Soße-Problem gibt es einfach keine Lösung.

    Eine der zentralen Stärken von „Wochenendrebellen“ ist nicht nur in dieser Szene die Darstellung von Autismus. Seitdem speziell der Mega-Hit „Rain Man“ mit Tom Cruise und Dustin Hoffman einen verzerrten Eindruck von autismusbedingten Inselbegabungen etabliert hat (was in Wirklichkeit nur sehr selten vorkommt), wird hier deutlich, wie unterschiedlich Autismus sich äußern kann. So versucht „Wochenendrebellen“, Verständnis zu schaffen: Während nichtsahnende Außenstehende sich über „mangelnde Erziehung“ mokieren und Vater Mirco verzweifelt die Situation irgendwie auflösen will, lässt uns Regisseur Rothemund immer wieder in die Perspektive von Jason eintauchen.

    Mit der Kamera aber noch mehr dem Sounddesign vermittelt er einen Eindruck von dem Krieg, der da gerade mal wieder im Kopf tobt – und vor allem der völligen Überforderungen, die in diesen Momenten herrscht. Jedes kleinste Geräusch ist für den angehenden Fußballfan um ein Vielfaches übersteigert – alles, was dazu auf ihn einprasselt, wird irgendwann so überwältigend, dass Jason eben einfach schreien muss, um alles andere zu verdrängen. Aber das Beste an „Wochenendrebellen“ ist: Nie wird der Film in einem solchen Moment zum platten Betroffenheitsdrama, das sein Publikum nur stumpf belehren will.

    Eine Schnellreise durch Deutschlands Fußball-Tempel

    Stattdessen lockert immer wieder Humor die Szenen auf. Wir können gemeinsam mit Vater und Sohn lachen, ihren Spaß auf ihren Abenteuern teilen. Vor allem Fußballfans dürften begeistert sein, wie die Stimmung in mehreren originalen Stadien von Vereinen der deutschen Männer-Profiligen eingefangen wird. Auch hier achtet „Wochenendrebellen“ immer auf die umfängliche Sichtweise der jungen Hauptfigur: Da prüft Jasons kritischer Blick dann, ob eventuell Nazis im Stadion sind, ein peinliches Maskottchen sein Unwesen treibt oder ob zu viele Spieler bunte Schuhe tragen – alles Ausschlusskriterien bei seiner Suche nach dem Herzensverein.

    Dass „Wochenendrebellen“ am Ende ein Wohlfühl-Film ist, liegt auch am großartigen, spiellaunigen Cast. Während „Tatort“-Star Aylin Tezel als Mutter an der Belastungsgrenze und Florian David Fitz als charmanter Vater überzeugen, ist vor allem die Besetzung von Cecilio Andresen ein Volltreffer. Mit seinem einnehmenden Spiel weckt der Jungschauspieler direkt die nötige Sympathie für die Hauptfigur mit all ihren Ecken und Kanten. Wenn Jason mitten in der Nacht die Mutter weckt, weil er genau jetzt und nicht zu irgendeinem anderen Zeitpunkt einen Vortrag über Astrophysik halten muss, können wir ihm – wie auch die gähnende „Mami“ Fatime – nicht wirklich böse sein.

    Die Suche dauert an: Zu welchem Verein geht es als Nächstes?

    Ein weiteres Prunkstück ist dann noch Ruhrpott-Legende Joachim Król als Opa, der mit dem Spruch „Der Jason ist schon so richtig, wie er ist“ berührt und noch einmal deutlich macht, dass dieser Film das Herz immer am rechten Fleck hat. Denn auch wenn eine sich in Wahrheit über viele Jahre erstreckende Geschichte hier sehr gerafft erzählt wird, sich einige Probleme auch ein wenig zügiger als in der Realität auflösen, reißt das Mitfühlen mit den tollen Hauptfiguren und vor allem die Begeisterung für ihr Abenteuer nie ab.

    Fazit: Marc Rothemund und Richard Kropf schildern die Abenteuer der „Wochenendrebellen“ Jason und Mirco von Juterczenka zwar im Schnelldurchlauf, aber trotzdem mit ganz viel Herz und Humor sowie einem tollen Cast. Besonders gelungen ist dabei, wie uns der Sound und die Bilder zumindest einen kleinen Einblick in Jasons uns sonst so fremde Welt erlauben.

    PS: Um dem immer mal wieder vorgebrachten „Vorurteil vom lahmen deutschen Film“ etwas entgegenzusetzen, hat sich die FILMSTARTS-Redaktion dazu entschieden, die Initiative „Deutsches Kino ist (doch) geil!“ zu starten: Jeden Monat wählen wir einen deutschen Film aus, der uns besonders gut gefallen, inspiriert oder fasziniert hat, um den Kinostart – unabhängig von seiner Größe – redaktionell wie einen Blockbuster zu begleiten (also mit einer Mehrzahl von Artikeln, einer eigenen Podcast-Episode und so weiter). „Wochenendrebellen“ ist unsere Wahl für den September 2023.

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