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    Golda - Israels eiserne Lady
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Golda - Israels eiserne Lady

    Noch eine dunkelste Stunde

    Von Lars-Christian Daniels

    Vieles in Guy Nattivs „Golda“ erinnert an Joe Wrights oscarprämiertes Historien-Drama „Die dunkelste Stunde“ von 2017: In beiden Werken beleuchten die Filmemacher das Wirken eines Staatsoberhaupts, das in Kriegszeiten unter hohem Druck und in einem engen Zeitfenster wegweisende Entscheidungen für sein Land treffen muss. Hier wie dort liefern der Oscar-Preisträger bzw. die Oscar-Preisträgerin in der Hauptrolle eine brillante Performance ab – und sowohl Gary Oldman als auch Helen Mirren, die in „Golda“ die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir verkörpert, sind dank der beeindruckenden Arbeit der Maskenbildner kaum wiederzuerkennen.

    Während „Die dunkelste Stunde“ in der Auftaktphase des eskalierenden Zweiten Weltkriegs spielt, richtet Guy Nattiv („Skin“) den Scheinwerfer auf eines der dramatischsten Kapitel des bis heute schwelenden Nahostkonflikts: den knapp dreiwöchigen Jom-Kippur-Krieg, in dem Ägypten, Syrien und Jordanien Anfang der 1970er Jahre in Israel einfielen. „Golda“ ist aber trotzdem kein Kriegsfilm im klassischen Sinne, sondern vielmehr eine mitreißende Mischung aus fiebrigem Kammerspiel, verzwicktem Politdrama und grandios gespieltem Biopic.

    Weltkino Filmverleih

    Kann Helen Mirren zum zweiten Mal einen Oscar für eine Rolle gewinnen, in der man sie praktisch nicht wiedererkennt?

    6. Oktober 1973: Ausgerechnet an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, starten Ägypten, Syrien und Jordanien einen Überraschungsangriff auf Israel. Die gesundheitlich angeschlagene Ministerpräsidentin Golda Meir (Helen Mirren) hatte den Einfall irgendwie geahnt, erste Anzeichen für den bevorstehenden Angriff aber ignoriert – entgegen ihrem warnenden Bauchgefühl, auf das sie sich sonst immer verlassen konnte. Während die syrischen Truppen in den Golanhöhen angreifen, sehen sich die israelischen Streitkräfte auf der Sinai-Halbinsel einer Übermacht ausgesetzt.

    Meir muss sich unterdessen in einem männerdominierten Krisenstab behaupten. Zusammen mit Verteidigungsminister Mosche Dajan (Rami Heuberger), Generalstabschef David „Dado“ Elazar (Lior Ashkenazi) und Mossad-Leiter Tzwi Zamir (Rotem Keinan) sucht die erste Frau an der Spitze Israels händeringend nach Lösungen, um die Invasoren zurückzuschlagen und Menschenleben zu retten. Meir setzt dabei nicht nur auf die militärische Erfahrung von Panzerdivisionsführer Ariel Sharon (Ohad Knoller), sondern auch auf die Unterstützung der USA. Der jüdische US-Außenminister Henry Kissinger (Liev Schreiber) hat allerdings gerade ganz andere Sorgen: Die Nixon-Regierung hat mit dem Watergate-Skandal zu kämpfen…

    Auch für Einsteiger*innen geeignet

    Keine Sorge: Man muss kein(e) Expert*in in Sachen Nahostpolitik und auch kein(e) Historiker*in sein, um dem Geschehen in „Golda“ gut folgen zu können. Schon in den Auftaktminuten gibt uns „Golda“ wichtige Eckdaten und nötige Vorkenntnisse an die Hand. Wir sehen flott aneinandergereihte Überschriften aus Zeitungsartikeln und historisches Videomaterial, in dem sie in angemessener Knappheit skizzieren, welch bewegende Zeiten der damals rund 25 Jahre bestehende Staat Israel bereits durchgemacht hat. Auch im weiteren Verlauf des Films entpuppt sich „Golda“ als stilsicher arrangierte Melange aus an Fakten orientierter Fiktion und verbriefter Realität, wenn etwa regelmäßig TV-Berichte ins Geschehen mit eingeflochten werden.

    Beginnend mit Golda Meirs Auftritt vor der Ende 1973 ins Leben gerufenen Agranat-Kommission zur Klärung der Fehler und Verantwortlichkeiten im Jom-Kippur-Krieg, spielt das Geschehen auf zwei Zeitebenen, zwischen denen nur wenige Monate liegen: Während Meir 1974 die kritischen Fragen von Shimon Agranat (Henry Goodman) beantwortet, liegt der erzählerische Schwerpunkt klar im Oktober 1973. Doch Meirs selbstkritischer Auftritt vor der Kommission ist spätestens auf der Zielgeraden des Films sehr wertvoll – verhindert er doch, dass die israelische Staatschefin allzu einseitig als makellose Heldin glorifiziert wird.

    Spannend bis zum Schluss

    Beginnend mit dem Überfall der ausländischen Truppen legt Guy Nattiv ein hohes Tempo vor und verdichtet sein Werk gekonnt zu einem fiebrigen Kammerspiel und Wettlauf gegen die Zeit, der zu großen Teilen in der hektischen Kommandozentrale und im Lagebesprechungsraum spielt. Ähnlich wie im Bunkerdrama „Der Untergang“ werden eilig Landkarten ausgerollt, Befehle debattiert und neue Hiobsbotschaften überbracht. Was tun, um das Land vor dem Untergang zu bewahren? Anders als in Oliver Hirschbiegels Film, der die letzten Tage Adolf Hitlers nachzeichnete, fliegen der charismatischen Staatschefin bei der Entscheidungsfindung unsere Sympathien zu – wie die Geschichte ausgeht, ist zwar bekannt, doch tut das der steilen Spannungskurve keinen Abbruch.

    Besonders dramatisch gestalten sich die Sequenzen in der Kommandozentrale, in der der Krisenstab das Frontgeschehen über Funk mitverfolgt und packendes Kopfkino entsteht: Blutige Bilder von Schlachtfeldern gibt es fast keine, stattdessen erzählen die besorgten Gesichter der Kabinettsmitglieder und Militärs die Geschichte. Die Sirenen heulen, der Streicher-Soundtrack dröhnt und die Kamera weicht Golda Meir nur selten von der Seite. Das gilt auch für die intimen Momente des Films, die die nach außen so souverän und selbstbewusst auftretende Staatschefin als zerbrechliche Krebspatientin demaskieren: In einer der stärksten Szenen bürstet Meirs Assistentin Lou Kaddar (Camille Cottin) ihrer nackten Chefin in der Badewanne behutsam das dünner werdende Haar aus.

    Pokerspiel mit dem höchstmöglichen Einsatz

    Überhaupt erleben wir die unter Druck geratene Politikerin als keineswegs fehlerlose, aber faszinierende Persönlichkeit: So oft sie auch hustet, Blut spuckt oder stürzt, ihren Humor lässt sich die Kämpferin und „Eiserne Lady Israels“ nicht nehmen. „Ich bin Politikerin, keine Soldatin“, weiß Meir um ihre Stärken und Schwächen, stellt aber kluge Fragen und weiß auf dem männerdominierten politischen Parkett nicht nur hoch, sondern auch erfolgreich zu pokern. Nüchtern notiert sich die kühle Strategin die Opferzahlen und trifft schon im nächsten Moment eine wegweisende Entscheidung. Dass im Krieg die Wahrheit zuerst stirbt, ist ihr bestens bewusst, wenn sie der Welt beim ersten öffentlichen Auftritt vorgaukelt, bestens auf die Invasion vorbereitet gewesen zu sein.

    Beim Wechselspiel aus Spannungs- und Entspannungsmomenten sind letztere klar in der Unterzahl, der Charakterzeichnung und den sympathisch-humorvollen Zwischentönen aber sehr dienlich. Etwa dann, wenn Meir den längst satten US-Außenminister Henry Kissinger bei einer deftigen Portion Borschtsch aus der Reserve lockt oder sich US-Präsident Nixon im TV um Kopf und Kragen redet, während Meir in ihrer Küchenschürze gerade einen Kuchen anschneidet. Auch ihre ausgeprägte Nikotinsucht, die wohl selbst Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt (den Meir nach dem Krieg persönlich traf) hätte vor Neid erblassen lassen, zieht sich wie ein roter Faden durch den Film: Wer selbst auf dem Sterbebett noch zwischen Sauerstoffgerät und Fluppe wechselt, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen. Aber die Lacher sind garantiert.

    Der nächste Mirren-Oscar?

    Neben dem einmal mehr überragenden Schauspiel von Helen Mirren („Die Queen“) und der verblüffenden Arbeit des Make-Up-Departments ist beim Blick auf die handwerklichen Stärken des Films auch die tolle Kameraarbeit von Jasper Wolf („Monos“) zu nennen. Wir erleben Rotationen und Fahrten über Besprechungstische, elegante Wechsel in die Vogelperspektive und zahlreiche Detailaufnahmen – von Meirs Augenpartie, überquellenden Aschenbechern oder blubbernden Brausetabletten. So begrenzt das Setting, so spektakulär und intensiv die Bilder. Allein die historischen Videoaufnahmen der realen Golda Meir, die im Schlussdrittel zusätzlich eingeflochten werden und die dann eben doch nicht wie Helen Mirren aussehen, rauben uns unnötig die Illusion – die hätte man sich auch noch für den Abspann aufheben können.

    Fazit: Der Krieg als intensives Kammerspiel – Guy Nattiv setzt Golda Meir ein starkes filmisches Denkmal. Neben der überragenden, kaum wiederzuerkennenden Hauptdarstellerin Helen Mirren überzeugt das temporeich arrangierte Politdrama auch handwerklich auf ganzer Linie.

    Wir haben „Golda“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen.

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