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    1900
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    1900
    Von Robert Cherkowski

    Bevor er selbst zum oscargekrönten Starregisseur wurde hat Bernardo Bertolucci von den Besten gelernt. An Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod" war er als einer der Drehbuchautoren beteiligt, davor verdingte er sich bei Pier Paolo Pasolinis „Accatone" als Produktionsassistent. Dass er sowohl beim Western-Maestro Leone als auch beim Sozialrealisten Pasolini gut aufgepasst hat, stellte Bertolucci bald bei seinen eigenen Regiearbeiten unter Beweis. Sowohl mit „Die Strategie der Spinne" als auch mit „Der große Irrtum" lieferte er Meisterwerke des italienischen Politkinos ab und bewahrte sich bei aller Inspiration durch die Meister immer seine ganz persönliche Handschrift. Nachdem er das ungleiche Paar Maria Schneider und Marlon Brando 1972 in „Der letzte Tango in Paris" durch ein Wechselbad sexueller wie emotionaler Abhängigkeit schickte und einen Skandal auslöste, war er plötzlich ein Star des internationalen Kinos, dem alle Türen offen standen. Mit einigen der damals angesagtesten Stars machte sich Bertolucci also an sein Lieblingsprojekt: das Historiendrama „1900". Heraus kam ein Epos von 317 Minuten Länge, das sich in jeder Sekunde wie „großes Kino" anfühlt. Leider jedoch ist der von Bertoluccis offen linker Gesinnung durchtränkte Parforceritt durch die erste Hälfte des 20. Jahrhundert trotz aller Anstrengungen und grandioser Anmutung kein ganz großer Wurf.

    Am Todestag Giuseppe Verdis, dem 27. Januar 1901, werden auf dem Gut des wohlhabenden Patriarchen Berlinghieri (Burt Lancaster) zwei Jungen geboren, in deren wechselhafter Freundschaft sich die ideologischen Dramen des 20. Jahrhunderts widerspiegeln. Während Alfredo (als Kind Paolo Pavesi, später Robert De Niro), der Enkel des Gutsherren, ein Leben voller Ausschweifungen und Übermut führt, erlebt Olmo (als Kind Roberto Maccanti, später Gérard Depardieu) vor allem Entbehrung, harte Arbeit und die Gräuel des Ersten Weltkriegs. Trotz dieser unterschiedlichen Lebenswege bleiben die beiden Freunde. Als am Horizont jedoch die finsteren Wolken des Faschismus aufziehen, beginnt sich die Stimmung einzutrüben. Während der arrogante Bourgeois Alfredo glaubt, dass er sich mit den Rüpeln in Schwarz – allen voran dem psychopathischen Vorarbeiter und Aufsteiger Attila (Donald Sutherland) - arrangieren kann, geht Olmo in den Widerstand. Bald schon werden aus den Freunden aus Kindertagen verbitterte Feinde.

    Mit seinen mehr als fünf Stunden Laufzeit kommt „1900" wie ein üppiges Festmahl daher, das erst einmal verdaut werden muss. In jeder Einstellung wirkt Bertoluccis Mammutwerk wie der Versuch eines ehrgeizigen Schülers seinen Lehrmeistern auf Augenhöhe zu begegnen und sie vielleicht sogar zu übertrumpfen: engagierter als Pasolini, visuell verspielter als Antonioni („Zabriskie Point") und opulenter als Visconti („Ludwig II."). „1900" sollte die Welt erobern, aber daraus wurde nichts. Während der offen linke Film in den republikanischen USA der 1970er auf wenig Gegenliebe stieß und auch in einer satt geschnittenen Version sang- und klanglos unterging, wurde er in Italien wegen einer Szene in der De Niro und Depardieu einen doppelten Handjob von Stefania Casini bekommen gar kurzzeitig wegen Pornografie auf den Index gesetzt. „1900" war ein Paukenschlag - ein Hit war er nie.

    Auch nach 35 Jahren sind die formalen Qualitäten von „1900" herausragend: Die Ausstattung ist von unglaublicher Detailfreude und Bertoluccis Stammkameramann Vittorio Storaro („Der letzte Kaiser") beeindruckt mit wundervollen Fahrten sowie einer intelligenten Lichtsetzung, die auf großartige Weise das erzählerische Konzept stützt und bereichert. Egal ob hier die Kindheit in Gold und Sepia oder der Herbst des Lebens ins eiskaltes Grau getaucht wird: Hier erstrahlt jedes Bild im rechten Licht. Die Filmmusik stammt dazu von niemand Geringerem als dem damals schon legendären Ennio Morricone, der ein paar wundervoll-traurige Melodien beiträgt. Und doch ist „1900" trotz all dieser Schmankerl kein reines Vergnügen. Auch die weniger gelungenen Aspekte sind überdeutlich zu erkennen und überschatten die handwerkliche Finesse hier und da.

    Passend zur damaligen politischen Überzeugung des Regisseurs ist die Erzählweise des Films zuweilen von dialektisch-didaktischer Deutlichkeit. Die zahlreichen sexuell aufgeladenen Szenen strotzen vor schwülstiger Symbolik und forcierter Fleischlichkeit, auch die Charakterzeichnung wurde mit dicken Strichen und nicht mit dem feinen Pinsel gemacht. Der verzärtelte Alfredo ist schon als Kind feige und neidisch auf die urwüchsige Kraft des wilden und potenten Proletariers Olmo. Der Bourgeois heiratet mit Ada (Dominique Sanda) schließlich eine neurotische Frau gehobenen Standes, die natürlich insgeheim den virilen Bauer begehrt. Die großen Patriarchen Leo Dalcò (Sterling Hayden) und Berlinghieri wiederum werden als gegerbte Überväter vom alten Schlag dargestellt, die bis ins höchste Alter vom Selbstverständnis männlicher Allmacht angetrieben werden.

    Die verschiedenen Facetten des Machotums der Patriarchen zeigen sich selbst in Kleinigkeiten - etwa wenn Sterling Hayden („Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben", „Der Pate"), bloß weil ihm danach ist, Melonen mit der blanken Faust zerschlägt oder wenn Burt Lancaster, der hier eine Parodie seiner Rolle als alter Aristokrat in Viscontis „Der Leopard" abliefert, fett und feist an seinen Zigarren nuckelt. Ganz offensichtlich ist die entlarvende Absicht aber in überspitzen Szenen wie jener, in der Lancaster eine junge Magd in den Pferdestall zerrt und versucht eine Erektion zu bekommen, während er mit den nackten Füßen im Pferdekot stampft und sie eine Kuh melkt. Subtil ist etwas anderes und solche Vergröberungen tragen kaum zum besseren Verständnis historischer, gesellschaftlicher oder psychologischer Zusammenhänge bei. Am besten schlägt sich unter diesen Voraussetzungen von den Darstellern noch Donald Sutherland („Die Nadel"), der dem Faschismus als Attila ein schreckliches Gesicht verleiht. Er legt die Rolle des brutalen, hinterlistigen, sadistischen und pädophilen (!) Fieslings bewusst comichaft an, und wir lernen: Faschisten töten Kätzchen.

    Großes Schauspielkino sieht anders aus, zumal die Darsteller abgesehen von Sutherland allesamt seltsam gehemmt wirken in Anbetracht der Extraportion Pathos, die Bertolucci hier oft verabreicht. Robert De Niro, der zu jener Zeit ein Garant für erstklassige Leistungen war und für „Der Pate II" erst kurz zuvor seinen ersten Oscar erhalten hatte, überzeugt bei der Darstellung von Alfredos weichen Manierismen, die Figur bleibt trotzdem seltsam konturlos. Den allermeisten Rollen fehlt einfach die Substanz und so darf Gérard Depardieu als Olmo zwar große Gesten liefern, was aber ohne dazugehörige Zwischentöne schnell ermüdend wirkt. Die beiden Protagonisten bleiben bis zum Schluss ausgesprochen fremd und der ganze Film wirkt letztlich trotz seiner sagenhaften Laufzeit besonders im letzten Drittel unfertig, fragmentarisch und überstürzt erzählt. Wenn im Finale auf einem Bauernhof das große Drama des zum Scheitern verurteilten italienischen Kommunismus‘ als thesenhaftes Theaterstück von anstrengender Länge abgehalten wird, dann mag das erzählerisch und formal mutig sein. Rundum funktionieren mag es nicht, womit dieses Ende stellvertretend für den gesamten Film steht.

    Fazit: „1900" ist in Entwurf und formaler Umsetzung ganz großes Kino, aber zugleich auch ein Beispiel für die Irrwege zügelloser Exzentrik im italienischen Politkino der 1970er Jahre.

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