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    Leave the World Behind
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Leave the World Behind

    Teslas auf Amokfahrt

    Von Lutz Granert

    Schon in frühester Kindheit hatte Regisseur Sam Esmail das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören. Kein Wunder, schließlich wuchs der Sohn ägyptischer Einwanderer mit muslimischem Glauben in North und South Carolina auf – von einer weißen Bevölkerung dominierten US-Bundesstaaten. Auch Fernsehshows und -sendungen, die er schon früh schaute, zeichneten das Zerrbild einer homogenen, weißen US-Gesellschaft und lösten in dem späteren Filmemacher die nostalgische Sehnsucht nach der dort vermittelten heilen Welt aus – die in Wirklichkeit jedoch nie existierte.

    Ein Beispiel eines solchen Formats ist die heimelige Wohlfühl-Atmosphäre der langjährigen Erfolgs-Sitcom „Friends“, die Esmail dem düsteren apokalyptischen Szenario seiner Netflix-Produktion „Leave The World Behind“ als satirischen Kontrapunkt gegenüberstellt. Das von Barack und Michelle Obama co-produzierte Katastrophendrama bietet bissige Gesellschaftskritik und einen spielfreudigen Cast – kommt bei einer properen Laufzeit von 140 Minuten aber allzu bedeutungsschwanger daher...

    Das Ende der Welt ist mal wieder nah... diesmal auf Netflix

    Die Werbefachfrau Amanda Sandford (Julia Roberts) hat in New Jersey ein Ferienhaus gebucht, damit sie zusammen mit Ehemann Clay (Ethan Hawke) und den gemeinsamen Kindern Archie (Charlie Evans) und Rose (Farrah Mackenzie) endlich mal rauskommt aus dem stressigen New Yorker Alltagstrott. Kaum angekommen im kleinen Kaff mit dem bezeichnenden Namen Point Comfort, ist es mit der geplanten Ruhe jedoch schnell vorbei:

    Nach dem ungebremsten Auflaufen eines Öltankers am Strand und dem Ausfall von Radio, Fernsehen und Internet stehen am Abend Vermieter George (Mahershala Ali) und seine Tochter Ruth (Myha'la Herrold) vor der Tür, die nach einem Konzertbesuch in ihrem Haus übernachten wollen. Auch wenn die misstrauische Amanda dagegen ist, arrangieren sich die beiden Familien miteinander. Am nächsten Morgen sind die Leitungen immer noch tot. Nach weiteren merkwürdigen Vorkommnissen verdichten sich die Hinweise, dass ein gezielter Cyberangriff dahintersteckt mit dem Ziel, die USA komplett lahmzulegen...

    Schreckensszenario: Wenn die IT-Infrastruktur zusammenbricht

    Seinen ersten großen Erfolg feierte Sam Esmail 2015 mit der von ihm erdachten und inszenierten Thriller-Serie „Mr. Robot“, in der ein Hacker-Netzwerk einen Anschlag auf die Weltwirtschaft plant. Thematisch knüpft „Leave The World Behind“ hier vage an, spielt die Anfälligkeit von IT-Infrastruktur doch wieder eine große Rolle – was von allen Protagonisten vor allem die 13-jährige Rose zu spüren bekommt: Beim Bingewatching von „Friends“ auf ihrem Tablet ist sie bis zur letzten Folge vorgedrungen, aber ob Ross und Rachel nun doch wieder zusammenkommen, wird sie wohl erst erfahren, sobald sich eine Streaming-Alternative aufgetan hat...

    Es bleibt nicht der einzige satirische Seitenhieb auf fatale Technologie-Abhängigkeit, den Esmail in seiner Adaption des gleichnamigen Romans von Rumaan Alam dazuerfand. So verstopfen nach dem Ausfall der Satelliten autonom fahrende, ineinandergekrachte Teslas ohne GPS-Steuerung den Freeway – weitere folgen und entpuppen sich als unkontrolliert rasende Geschosse, denen die Sandfords nur mit einer abenteuerlichen Geisterfahrt entkommen können.

    Spannungsaufbau mit wenig Überraschungen

    Das apokalyptische Szenario in „Leave The World Behind“ bleibt mangels zuverlässiger Informationen für die Protagonisten auch für das Publikum eher vage. Esmail scheint sich diesem nur temporär mit Spekulationen gefüllten Vakuum in seinem Plot bewusst gewesen zu sein. So ist zu erklären, weshalb er seinen in fünf Kapitel aufgeteilten Film mit bedeutungsschwangeren Szenen voller Merkwürdigkeiten um akustische Signale und abwandernde Tiere angereichert hat, die überzeugend Spannung aufbauen und große Erwartungen schüren – mangels wirklicher Überraschungen oder Erkenntnisse aber schlussendlich zu oft ins Leere laufen. Eine suggestiv mit anschwellender Musik unterlegte Parallelmontage, bei der George am Strand eine schockierende Entdeckung macht, Archie und Rose eine verlassene Jagdhütte erkunden und Clay erst einer aufgebrachten Mexikanerin und dann einer Flyer versprühenden Drohne begegnet, verpufft dabei auf fast schon unfreiwillig komische Art und Weise.

    Während die Bedrohung auf erzählerischer Ebene nur bedingt greifbar wird, funktioniert sie auf bildlicher Ebene aber umso besser. Zwar können die CGI-Effekte gerade bei Begegnungen mit Wildtieren im Wald nicht überzeugen, doch die regelrecht entfesselten Kamerafahrten von Tod Campbell (der neben den Esmail-Serien „Mr. Robot“ und „Homecoming“ auch vier Folgen von „Stranger Things“ eine prägnante Optik verlieh) sind eine - technisch ungleich beeindruckendere - Augenweide. Durch zahlreiche Draufsichten, wiederholtes Kippen in die Vertikale und andere orginelle visuelle Ideen entfesseln sie eine große Dynamik und einen unweigerlichen Sog.

    Mahershala Ali und Julia Roberts im Angesicht der Apokalypse

    Das größte Pfund von „Leave The World Behind“ ist jedoch das exzellente Ensemble. Julia Roberts (die schon bei der Drama-Serie „Homecoming“ mit Esmail zusammenarbeitete) gelingt als zunächst feindselige und kratzbürstige Glucke, der es beim Tanzen mit George dann irgendwann doch gelingt, sich zu öffnen und ihre menschenfeindliche Grundeinstellung zu reflektieren, eine vielschichtige Performance – die den Film zudem mit weiteren gesellschaftskritischen Einsprengseln anreichert. Mahershala Ali („Green Book“) verkörpert mit fein nuanciertem Mienenspiel den stets rationalen und höflichen, zugleich aber auch geheimnisvollen Gentleman, während Kevin Bacon in einer kleinen Nebenrolle als stumpfer Prepper-Redneck mit seinen wilden Theorien über die merkwürdigen Vorgänge eine süffisante Note beiträgt.

    Fazit: Gesellschaftskritik trifft in „Leave The World Behind“ auf ein regelrecht apokalyptisches Szenario, in dem die kreative Kameraarbeit und Julia Roberts' einnehmende Performance deutlich hervorzuheben sind. Allerdings schraubt Regisseur Sam Esmail den Spannungsbogen immer höher – um die dadurch geschürten Publikumserwartungen dann nicht vollständig einzulösen.

     

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