Ich liebe Filme, die einem nicht jede Erklärung gleich mitliefern, Filme, bei denen man sein eigenes Gehirn anstrengen muss (wozu hat man es schließlich?), in denen der Regisseur einem nicht „die Erklärung“ auf einem Silbertablett serviert, und wenn sie dann noch spannend inszeniert und gut gespielt sind, ist der Kinoabend gerettet und faszinierend, vielleicht spricht man tagelang über solche Filme. David Lynch gehört für mich u.a. zu den Regisseuren, die das alles meisterhaft beherrschen. Claude Lelouch, dessen neuester Film jetzt in den Kinos angelaufen ist, ist heiß umstritten. Die einen lieben ihn, die anderen machen ihn nieder. „And now ... Ladies and Gentlemen“ wurde für die Präsentation in hiesigen Kinos um knapp eine halbe Stunde gekürzt. Es gibt Filmkritiker, die das bedauern. Ich nicht. Lelouchs neuer Film trieb mich zur Verzweiflung und fast dazu, vorzeitig das Kino zu verlassen. Und lediglich, um diese Filmkritik zu scheiben, blieb ich bis zum bitteren Ende, war wütend, verärgert und neigte zu destruktiven Phantasien.
Valentin Valentin (Jeremy Irons) ist ein Dieb. Juwelen sind sein bevorzugtes Ziel, extravagante Coups seine Spezialität. So treibt es ihn in ein Juweliergeschäft, in dem er sich als Polizeikommissar ausgibt, der den Besitzer vor einem Dieb warnt, der etwa in drei Stunden sein Geschäft ausrauben wolle. Er solle ihn gewähren lassen. Nach dem Coup werde ihn die Polizei auf der Straße festnehmen. Der Dieb ist natürlich niemand anderes als Valentin. Der allerdings hat – trotz seiner erfolgreichen Raubzüge – ein Problem: er leidet an Gedächtnisschwund. Außerdem scheint er an seiner Geliebten zu leiden, die er über einen seiner Raubzüge kennen gelernt hat. Françoise (Alessandra Martines) liebt Valentin. Doch ihn treibt es angesichts seiner Amnesie auf das Meer. Mit einer Yacht, die er einem gewissen Thierry (Thierry Lhermitte) abkauft, will er die Welt umsegeln, um zu sich selbst zu finden. Gesagt, getan. Auch die Sängerin Jane Lester (Patricia Kaas) vergisst allzu schnell. Schon während ihrer Auftritte kann es passieren, dass sie mitten im Lied aufhört zu singen. Die Seelenverwandten treffen sich in Fez in einem Luxushotel. Während bei Valentin ein Hirntumor festgestellt wird, bleibt es bei Jane unklar, warum sie vergisst. Eine Marokkanerin empfiehlt ihr den Besuch beim Grab einer Toten, die angeblich Wunder bewirken kann. Valentin hingegen muss operiert werden. Dann allerdings kommt etwas dazwischen. Der Italienerin Madame Falconnetti (Claudia Cardinale), die im selben Hotel mit ihrem Mann (Constantin Alexandrov) weilt, wird des nachts der Schmuck aus dem Tresor gestohlen: von einem Einbrecher mit Kapuze. Und der örtliche Polizeikommissar (Amidou) hat – nach Erkundigungen bei der französischen Polizei – sofort Valentin in Verdacht ...
Jeremy Irons ist immer noch ein sehr gut aussehender Mensch. Patricia Kaas sieht auch nicht schlecht aus, hat schöne lange Beine. Der Blick über die marokkanische Stadt Fez ist beeindruckend, die Bilder von Hotel, Segelyacht und Meer ebenfalls. Auch ist es schön, Claudia Cardinale einmal wiederzusehen. Amnesie ist ein modernes Thema für moderne Filme (man erinnere sich nur an die Meisterwerke „Der Mann ohne Vergangenheit“ von Kaurismäki oder „Memento“ von Christopher Nolan). Aber reicht dies alles, um einen interessanten, spannenden und nachdenklich machenden Film zu inszenieren? Natürlich nicht.
Lelouchs neuer Film, der bei den Filmfestspielen in Cannes 2002 gnadenlos durchgefallen war, ist – schlicht gesagt – eine Katastrophe. Ich habe keinen blassen Schimmer, was Lelouch mit diesem Film will. Da treffen zwei Menschen aufeinander, die das Drehbuch zusammenführt. Der eine wird auf seiner Segelyacht ohnmächtig, und die treibt nach Marokko. Die andere, Frau Kaas, geht zielgerichtet nach Fez, um sich einer Wunderheilerin anzuvertrauen. Beide leiden unter Amnesie. Bis es so weit ist, werden beide Figuren ausgiebig um nicht zu sagen: bis zum Erbrechen „vorgestellt“: der extravagante Dieb und die mehr oder weniger erfolgreiche Sängerin, die fast ausschließlich in Bars ihre Lieder vorträgt. Ja und? Beide leben in Beziehungen, über die man im Grunde nichts bis gar nichts erfährt. Der Freund von Jane hat in deren Freundin „eine bessere“ gefunden, Valentin scheut anscheinend die Nähe zu Françoise und flüchtet sich auf die Yacht. Warum? Um ihr zu entfliehen? Der Krankheit zu entkommen? Keine Ahnung, und das ist auch unwichtig. Denn Lelouch hat keinen Film gedreht, sondern Szenen zusammengeschustert.
Eine gestelzte, gekünstelte Hintergründigkeit legt sich wie ein Schleier über den langweiligen Film, ohne nicht laufend gleichzeitig in sich zusammenzubrechen wie ein Kartenhaus. Die sich langsam anbahnende und parallel dazu immer unglaubwürdiger werdende Liebesgeschichte zwischen Irons und Kaas hat mit beider Gedächtnisschwund nichts zu tun. Das Drehbuch verknüpft allerdings beides über Allerweltsweisheiten aus der psychologischen Hausapotheke, wie: „Lügen sind Träume, die man in flagranti erwischt.“ Es darf gerätselt werden, ob dies oder jenes, was Lelouch seine Protagonisten erleben lässt, nun Traum oder Wirklichkeit ist. Schwierig ist das kaum, und einschläfernd. Irons und die Kaas schleichen durch den Film, langsam wie Schnecken, die sich letztlich langweilen, was auf den Zuschauer direkt übergeht. Auf die seltsame Liebesgeschichte aufgepfropft wird dann noch eine Intrige der italienischen Grande Dame (Cardinale) mit einem jugendlichen Liebhaber.
Doch der Langeweile nicht genug darf Patricia Kaas an allen Ecken und Enden des Films das Geschehen durch ihre Lieder untermalen. Wer die Interpretationen der Kaas mag, kann sich den Film sparen und eine ihrer CDs kaufen. Wie ein verhunzter, über fast zwei Stunden ausgedehnter Videoclip kommt Lelouchs Film daher, und es mag den tiefschürfenden Expertisen noch tiefschürfender argumentierender Experten der Filmkritik überlassen bleiben, in diesem filmischen Desaster irgendein „Meisterwerk“ des französischen Films zu sehen. Die Kaas ergeht sich in leicht bitterer Miene oder ebenso leicht traurigen Blicken, noch leichterem Lächeln und sanfter Barmusik. Schön, oder auch nicht. Beliebigkeit um der Beliebigkeit willen. Jeremy Irons findet in keiner Sekunde dieses Streifens zu irgendeiner Form von charakterlicher Tiefe. Von den anderen Schauspielern, die nichts als Staffage sind, möchte ich lieber schweigen. Warum sich also aufregen, dass der Film geschnitten wurde? Am besten wäre er gar nicht gedreht worden. Ich weiß nicht, welcher Teufel Lelouch geritten hat, und ich möchte es ehrlich gesagt auch gar nicht wissen. Ob nun 106 oder 133 Minuten Langeweile – was spielt das für eine Rolle?
(Zuerst erschienen bei CIAO)