Vier Generationen, eine Geschichte
Von Michael MeynsManchmal fallen einem Filmemacher die großartigsten Themen einfach so in den Schoss. Aber das heißt ja nicht automatisch, dass dann auch ein großartiger Film dabei herauskommt. Nun hatte Janna Ji Wonders das seltene Glück, dass ihre Familiengeschichte so faszinierend, wendungsreich und vielschichtig ist, dass sie wie für ein Kinoepos geschrieben zu sein scheint – und dann kommt noch dazu, dass alle dabei zentralen Entwicklungen der vergangenen 100 Jahre allesamt auf Fotos, Videobändern und in Zeitungsartikeln auch visuell festgehalten wurden. Aber zu ihrem herausragenden Dokumentarfilm „Walchensee Forever“ hat die Regiedebütantin den Stoff dann eben schon noch selbst verdichtet. Es ist das Porträt von vier Generationen von Frauen, die sich den patriarchalischen Strukturen unterwerfen und widersetzen, ihnen entfliehen und an ihnen zu Grunde gehen.
In den bayerischen Voralpen liegt der Walchensee, einer der tiefsten Seen Deutschlands. Hier eröffnet im Jahre 1920 die Familie Werner ein Ausflugscafé, das auch heute noch in Betrieb ist. Dieser Ort bleibt das Zentrum der Familie und ihrer Geschichte. Die Tochter der Familie, Norma, stellt ihre eigenen künstlerischen Ambitionen zum Wohle der Familie zurück, vor allem für ihre Töchter Anna und Frauke. Diese zogen hinaus in die Welt, von Mexiko über Indien bis hin in die Münchner Kommune von Rainer Langhans, immer auf der Suche nach ihrem Platz in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Die eine nahm sich das Leben, die andere brachte eine Tochter zur Welt: Janna Ji Wonders, die nun anhand von photographischem und filmischem Archivmaterial die Geschichte ihrer Familie erzählt, die vor allem eine Geschichte von Emanzipationsversuchen ist…
Drei Generationen von Frauen am Walchensee.
Dass „Walchensee Forever“ in seiner jetzigen Form überhaupt möglich wurde, ist vor allem den künstlerischen Ambitionen der Frauen der Familie Werner zu verdanken. Zwar sind aus der Frühphase der Familiensage, also den 1920er und 1930er Jahren, nur wenige Fotos erhalten, aber doch genug, um eine ununterbrochene Linie aus den Zeiten der Weimarer Republik über die Nazi-Ära bis hin zur Bundesrepublik der Gegenwart ziehen zu können. Besonders Anna, die Mutter der Regisseurin, sowie Frauke, ihre Tante, fotografierten viel und nahmen auch schon früh eine 8mm-Filmkamera in die Hand. Gleich in der ersten Szene von „Walchensee Forever“ sieht man die Regisseurin, die im Alter von vielleicht fünf oder sechs Jahren von ihrer Mutter gefilmt und befragt wird: Es geht um verschiedenen Dinge, aber vor allem auch um den Tod ihrer Tante, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits das Leben genommen hatte. Ein Hauch von Tragik liegt über dem gesamten Film, ein Gefühl des Scheiterns an den eigenen Träumen, vor allem aber an der Gesellschaft und ihren Konventionen.
Schon die Großmutter Norma, die sagenhafte 105 Jahre alt geworden ist und während der Dreharbeiten verstarb, versuchte mehr zu sein als Mutter und Wirtin, doch das Schicksal hatte etwas anderes für sie vorgesehen. Ihr Mann verließ sie und zog ins nicht weit entfernte München, was einige Jahre später vielleicht auch den Töchtern Anna und Frauke den Sprung in die Stadt, weg vom beschaulichen Leben am See, leichter machte. Geradezu klassische Leben ihrer Zeit führten sie, erlebten die 60er Jahre und ihr Versprechen auf Freiheit und Gleichheit, das sich bald als Schimäre erweisen sollte. Gemeinsam reisten sie als Jodel-Duo nach Mexiko, waren später in Indien bei einem Guru. Während Anna Fotografin lernt und mit einem Hippie aus Amerika ihre Tochter Janna bekommt, wird Frauke Teil der Kommune um Rainer Langhans.
Anna Werner und Rainer Langhans beim Nackt-Retreat in Griechenland.
Spätestens wenn diese zentrale Figur der 68er auftaucht, mit seinen inzwischen ergrauten Locken, stets komplett in weiß gekleidet, mit einer gewissen Weisheit auf die Wege und Irrwege seiner Generation zurückblickend, wird deutlich, wie sehr „Walchensee Forever“ auch ein deutsches Gesellschaftsporträt ist. Ohne zu betonen, ohne besonders pointiert auf Aspekte hinzuweisen, erzählt Janna Ji Wonders über die Schwierigkeit der Emanzipation, die Steine, die vor Frauen in den Weg gelegt wurden, die ausscheren, die selbstbestimmt leben wollten.
Anhand der Generationen der Familie Werner bzw. Wonders zeigt sich aber auch, wie sehr sich die Gesellschaft verändert hat: Während die Großmutter ihr ganzes Leben am Walchensee verbrachte, ihre Töchter schon ausbrachen, nicht immer ihr Glück fanden, im Fall von Frauke sogar an der Unbestimmtheit verzweifelten, stehen der Enkelgeneration inzwischen fast alle Optionen ganz selbstverständlich offen. Janna Ji Wonders hat ihre zu einer herausragenden Dokumentation genutzt, die in einer durch und durch persönlichen Geschichte das Universelle findet.
Fazit: Eine zugleich epische und intime Dokumentarerzählung - Janna Ji Wonders macht aus der faszinierenden Geschichte ihrer Familie einen nicht minder faszinierenden Kinofilm, in der sie einen Bogen aus den 1920er bis in die Jetztzeit schlägt. Ein verdammt starkes Regiedebüt.
Wir haben den Film im Rahmen der Berlinale 2020 gesehen, wo er in der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ gezeigt wurde.