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    Nahschuss
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Nahschuss

    Kafka in der DDR

    Von Karin Jirsak

    Wer den Namen Werner Teske nicht kennt, sollte besser darauf verzichten, ihn vor dem Kinobesuch zu recherchieren, um sich das Ende des auf realen Ereignissen beruhenden Politdramas „Nahschuss“ nicht vorwegzunehmen. Aber auch mit Kenntnis des Ausgangs ist es kaum möglich, sich dem perfiden Sog zu entziehen, den die Regisseurin und Drehbuchautorin Franziska Stünkel in ihrem erst zweiten Kinofilm hier mit den Mitteln des Thrillers heraufbeschwört.

    Der Horror eines Systems, unsichtbar und allwissend, darin gefangen ein Jedermann, der sich bis zur Selbstauflösung verstrickt in Fragen um Schuld und ein (un-)mögliches Entkommen. Ja, es ist leicht möglich, sich bei diesem Aufbau an Kafkas „Der Prozess“ erinnert zu fühlen und den hier Franz Walter genannten Protagonisten als eine Art Josef K. der DDR wahrzunehmen. In jedem Fall eine Rolle wie gemacht für Lars Eidinger, der hier im Duell mit Devid Striesow den Kampf Mensch gegen Überwachungsmaschine auf den Punkt zuspitzt. Eine erschütternde Erfahrung.

    Franz (Lars Eidinger) und Corina (Luise Heyer) sehen einer glücklichen Zukunft entgegen ...

    Als Franz (Lars Eidinger) ein Job beim Auslandsnachrichtendienst mit anschließender Professur angeboten wird, scheint dem ambitionierten Akademiker und seiner Freundin Corina (Luise Heyer) eine große Zukunft bevorzustehen. Doch das schöne Leben inklusive todschicker Wohnung hat seinen Preis. Im Dienste der Staatssicherheit soll Franz zusammen mit seinem Vorgesetzten Dirk Hartmann (Devid Striesow) in der BRD Informationen über einen in den Westen übergelaufenen Fußballspieler beschaffen. Doch je mehr er die Methoden seines Auftraggebers anzuwenden lernt, desto stärker wächst in ihm das Bewusstsein, dass dieser Staat, dem Franz die Treue geschworen hat, seine Bürger gnadenlos gegeneinander ausspielt – und dabei notfalls auch über Leichen geht…

    Kein Lehrstück, sondern hochspannend

    Nackt steht der Protagonist vor einem bis zum Boden reichenden Fenster und blickt hinaus. Er dreht sich um, geht ein paar Schritte in den Raum hinein und legt sich zu seiner Freundin (ganz stark: Luise Heyer, „Generation Beziehungsunfähig“) auf den Boden. Bei der Zigarette danach macht er ihr spontan einen Antrag, mit Kugelschreiber zeichnen sie sich Ringe an die Finger. Eigentlich besser als echte Ringe, denn so müsse man jedes Mal nach dem Duschen die Entscheidung neu treffen, sagt sie...

    Diese erste Szene von „Nahschuss“ enthält auf der Bildebene schon alle zentralen Themen – Transparenz, Verletzlichkeit, Nähe und Distanz, die Flüchtigkeit des Glücks – und steht damit exemplarisch für die erzählerische Dichte und visuelle Ausdruckskraft des hochspannenden Politdramas. 13 Jahre nach ihrem Kinodebüt mit „Vineta“ legt die Regisseurin und Fotokünstlerin Franziska Stünkel nun einen Film vor, der so gar nichts gemein hat mit dem biederen, deutschen Lehrstückkino, das solche DDR-Stoffe in der Regel zu provozieren scheinen.

    ... aber der mephistophelische Stasi-Funktionär Dirk Hartmann (Devid Striesow) lauert schon.

    Neben der glasklaren und suggestiven Bildsprache ist die wohl größte Stärke der strenge Fokus auf den zentralen Konflikt – den Kampf eines Menschen gegen einen übermächtigen Apparat. Ein abgründiger Kontrast, der als solcher schon einen starken Sog erzeugt. Verkörpert werden diese Gegenpole mit gewohnter Exzellenz von Lars Eidinger („Babylon Berlin“) und Devid Striesow („Ich bin dann mal weg“), die eigentlich niemandem mehr unter Beweis stellen müssten, dass sie zu den profiliertesten Darstellern ihrer Generation gehören.

    Persönlich mag man von Eidinger und seinen Skandälchen halten, was man will: Auf der Leinwand strahlt er selbst als wenig schillernder Stasi-Spitzel wie eine Neutronenbombe – und das die hier irgendwann hochgehen muss, wird von Szene zu Szene deutlicher (wozu es nicht mal den in gefühlt jeder zweiten Szene hektisch gekippten Alkohol gebraucht hätte). Mit präziser Körperlichkeit gelingt es Eidinger, den subtilen Terror fühlbar zu machen. Gleiches gilt, auf der anderen Seite, für Striesow als mephistophelische Verkörperung eines Systems des Überwachens und Strafens, das noch immer oft allzu nostalgisch verklärt wird.

    Wie nun dieses System immer näher rückt, das Politische immer mehr ins (auch körperlich) Private eingreift, wird etwa in einer Szene deutlich, in der Corina auf einer Party von einem Funktionär scheinbar beiläufig auf ihr Parfum – ein Mitbringsel aus der BRD – angesprochen wird: „Chanel?“ Mit nur einem Wort gibt der gesichtslose Apparat in Gestalt des Mannes, von dem wir nur den Rücken zu sehen bekommen, zu verstehen: Ich muss dir nur einmal nahekommen und weiß schon mehr über dich, als dir lieb sein kann. Gefährliches Wissen, das jederzeit vertieft und zur Waffe werden kann.

    Bis ins Mark erschüttert

    Mit ihrer sorgsamen, auf das Wesentliche fokussierten Inszenierung gelingt Franziska Stückel das – nicht nur für den deutschen Film – bemerkenswerte Kunststück, eine perfekt ineinanderfließende Mischung aus Drama und Thriller zu schaffen, die in manchen Szenen sogar fast schon wie ein Horrorthriller wirkt. Und wenn Franz auf dem Balkon kauert, über Kopfhörer „Halt dich an deiner Liebe fest“ von Ton Steine Scherben hört und den Kopfhörer dann wortlos seiner Corina überstreift, braucht es keine gesprochenen Worte, um alle inneren Konflikte sofort zu erfassen.

    Auch mit ihrem wohlüberlegten Einsatz von Musik gelingt Stückel eine in jeder Hinsicht berührende Auseinandersetzung mit deutscher Nachkriegsgeschichte, die sich hinter Florian Henckel von Donnersmarcks Oscar-Gewinner „Das Leben der Anderen“ von 2006 definitiv nicht verstecken muss. Im Gegenteil: „Nahschuss“ ist der zugänglichere und in gewisser Weise auch der stärkere Film, weil er von der ersten bis zur letzten Szene nicht loslässt und emotional bis ins Mark erschüttert. Spätestens mit dem jähen Schlussakkord, der die Menschenverachtung des Überwachungsstaates nicht eindringlicher hätte auf den Punkt bringen können.

    Fazit: Ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte, beklemmend und hochspannend inszeniert als Mischung aus Politdrama und Psychothriller – ganz weit weg von jedem Lehrstückkino. Als Verkörperungen des Kampfes Mensch vs. unmenschliches System holen Lars Eidinger und Devid Striesow das abstrakte Grauen des DDR-Überwachungsapparates so nah heran, dass es weh tut.

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