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    Das freiwillige Jahr
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Das freiwillige Jahr

    Ein Porträt der "Generation Maybe"

    Von Lucas Barwenczik

    Ulrich Köhlers vorheriger Spielfilm „In My Room“ erzählte von einer Welt ohne Menschen. In „Das freiwillige Jahr“, den Köhler gemeinsam mit Henner Winckler inszeniert hat, erscheint dieser Zustand fast erstrebenswert. Der Film breitet eine schmerzliche Familiengeschichte aus, in der alle zwischenmenschlichen Beziehungen irgendwann zu Konflikten werden. Familie bedeutet hier vor allem Herrschaft und Kontrolle, selbst gut gemeinte Ratschläge sind eigentlich Befehle. Der Titel ist wohl ironisch zu verstehen, denn wirklich freiwillig passiert hier wenig. Und dass das „soziale“ aus dem Freiwilligen Sozialen Jahr fehlt, ist wohl auch kein Zufall. Das deutsche Regie-Duo entwirft ein täuschend simples Drama, das auf den ersten Blick klein wirkt, dann aber immer weiter über sich hinauswächst.

    Der Film beginnt auf dem Weg zum Flughafen – der Ort, an dem man im Kino in der Regel zwischen zwei Leben entscheidet. Das neue in der Ferne, das alte in der Heimat, gehen oder bleiben. Dorfarzt Urs (Sebastian Rudolph) fährt seine Tochter Jette (Maj-Britt Klenke). Sie soll in Costa Rica in einem Krankenhaus arbeiten, um der Provinz zu entkommen und Eigenständigkeit zu lernen. Doch sie ist unentschlossen. Vor allem ihre Jugendliebe Mario (Thomas Schubert) will sie nicht zurücklassen. Als Urs aus Sorge um seinen alkoholkranken Bruder Falk (Stefan Stern) zurückbleibt, fahren Jette und Mario allein weiter. Ein einziger Moment des Zögerns hat gravierende Folgen…

    Jette muss sich entscheiden, was sie wirklich will.

    „Das freiwillige Jahr“ gibt sich schlicht. Der Cast ist überschaubar, allzu viele Schauplätze werden nicht besucht. Die Struktur ist klar und schnörkellos: Erzählt wird streng chronologisch, ohne Rückblenden oder größere Ellipsen. Es vergehen kaum mehr als einige Tage, außerdem bleibt man immer nah an den Figuren. Ihr Kontext wird immer nur angedeutet. Eingangs ist nicht ganz klar, wohin die Reise geht. Der Film entfaltet sich, man kann ihn als eine langsame Bewegung des Herauszoomens verstehen. Alles beginnt bei zwei Menschen, die irgendwann so etwas wie einen Generationenkonflikt und die Großwetterlage im Deutschland der Zehnerjahre formen. Punkt um Punkt entsteht ein Geflecht aus Beziehungen. Neue Figuren werden etabliert, ihre Eigenschaften, Ängste und Träume werden aus ihren Worten und Taten deutlich.

    Bilder so schläfrig wie Deutschland

    Auch die Form wird dabei recht simpel gehalten. Meist werden die vielen Dialogsequenzen mit einer Handkamera gefilmt, „Das freiwillige Jahr“ sucht den dokumentarischen Gestus. Natürliches, etwas trauriges graues Licht dominiert die Aufnahmen. Es ist eine Bildsprache, die eher im Fernsehen als im Kino zu Hause ist. Öffentlich-rechtlicher Naturalismus. Doch Winckler und Köhler setzen diese Sprache nicht zufällig so ein. Die Bilder passen sich dem Gegenstand an, sie sind so bieder und schläfrig wie das Deutschland, das gezeigt wird. Landstraßen, Einfamilienhäuser, eine Waschanlage, ein Sportplatz. Alles wirkt normal und (größtenteils) harmlos.

    So, wie auch Urs wirkt. Wenngleich die Sympathien des Publikums wohl bei seiner Tochter liegen, ist der alleinerziehende Vater das kalte Herz des Films. Er ist die Art von Mensch, die in den Mittelpunkt drängt. Nicht, weil er wirklich etwas zu sagen hätte, sondern, um eine innere Leere zu füllen. Rudolph spielt eine vertraute Figur, der man im Alltag oft begegnet, einen modernen Archetyp. Eine Art Mittelstands-Tyrann, herrschsüchtige Durchschnittlichkeit. Eine um Nuancen weniger groteske Variation von David Brent aus „The Office“ oder seiner deutschen Entsprechung „Stromberg“. Man sieht in jedem traurigen Blick die früheren Ambitionen, Augenringe und resignierte Haltung stellen dem die Realität entgegen. Sein Leben ist nicht so verlaufen, wie er es sich erhofft hatte.

    So ein Typ wie Stromberg: Dorfarzt Urs

    Seine Mangel an Selbstreflexion ist bemerkenswert. Manchmal wirkt der Film tatsächlich wie eine Komödie, wenn er sich nach tausend väterlichen Predigten zu einem Satz hinreißen lässt wie: „Ich will nicht, dass Mario dich wieder unter Druck setzt.“ Urs ist eine tragikomische Figur, ein wackelig stehendes Männlein, das man nie hasst, sondern eher bemitleidet. All seiner Verfehlungen zum Trotz erkennt man immer wieder auch den liebenden, sich sorgenden Vater in ihm.

    An der Vehemenz, mit der er Jette auf einen bestimmten Pfad führen will, wird deutlich, dass er jetzt durch seine Tochter lebt. Ein fast beiläufiger Satz offenbart, wie sehr er sein Dorf hasst. Sie soll schaffen, was ihm nicht gelang: die Flucht. Ohnehin weiß er immer sehr genau, was für alle am besten ist. In einer der ersten Szenen tritt er die Tür seines Bruders ein – vorgeblich aus Sorge, eigentlich aber aus einem übergriffigen Kontrollzwang.

    Genau die richtige Mischung aus Muskeln und Wampe: Der angehende Achtfach-Vater Mario.

    Jette ist eine sehr durchschnittliche junge Erwachsene. Eine Vertreterin der Generation Z, mit allem, was dazu gehört. Schon in den ersten zehn Minuten beschwert sich Urs darüber, dass sie zu viel am Smartphone hängt. „Das nervt dich doch selbst“, erklärt er ihr die eigenen Empfindungen. Sie ist unentschlossen. Wenig subtile Momente demonstrieren die spätadoleszente Selbstfindung. Etwa, wenn sie auf dem Weg zu Flughafen mit ihrem Freund über die richtige Ausfahrt diskutiert. Mario gefällt es im Dorf, er trainiert die Jugendfußballmannschaft. Sein Körper ist die perfekte Mischung aus Muskeln und Wampe, man kann sich sein Gesicht hervorragend an einem Autohaus-Juniormitarbeiter oder einem Sport- und Erdkundelehrer vorstellen. Er will Kinder, am besten acht bis zehn. Er sehnt sich nach Ordnung, Routine und Sesshaftigkeit.

    Die Vielleicht-Generation

    Jette ist unsicher. Sie liebt ihn, scheint aber etwas anderes zu wollen. Doch auch zur Flexibilität, zum Leben am anderen Ende der Welt ohne Familie und Freunde, will sie nicht genötigt werden. Im letzten Jahrzehnt entstanden Unmengen von Texten und sogar ganze Bücher über die so genannte „Generation Maybe“. Über Heranwachsende, die sich immer alle Optionen offenhalten wollen. „Das freiwillige Jahr“ stellt auch die Frage, inwiefern ihre Zweifel eine Reaktion auf die widersprüchlichen Wünsche ihrer Eltern darstellt. Man kann niemanden zur Eigenständigkeit zwingen, denn durch den Zwang verschwindet die Eigenständigkeit. Das wird in vielen Szenen deutlich.

    Der staatliche Zwang zu Militär- oder Zivildienst existiert seit Jahren nicht mehr. Das Gefühl, junge Menschen auch im Erwachsenenalter noch den richtigen Pfad weisen zu müssen, besteht weiterhin. Jetzt ist da ein implizierter Zwang: Die Markwirtschaft fordert von möglichen Bewerbern einen vollen Lebenslauf. Wenn später noch der Migrant Murat (Hussein Eliraqui) auftaucht, den Urs bei sich aufnehmen wollte, rutscht „Das freiwillige Jahr“ ein wenig ins Exemplarische. Es geht plötzlich nicht mehr um die Figuren, sondern – irgendwie – um Deutschland. Um eine Gesellschaft voll von zweifelnden Vätern und Töchtern, die mit großen Fragen konfrontiert werden und keine Antwort finden. Einige der späteren Eskalationen wollen nicht ganz zu der Stimmung und den Dimensionen des Films passen. Zuvor wirkte der Film so klein, dass immer das Gefühl existierte, das eigentlich etwas Größeres gemeint ist. Gegen Ende wird er gerade groß genug, um das Wesentliche aus den Augen zu verlieren.

    Fazit: „Das freiwillige Jahr“ erzielt mit einfachsten Mitteln eine große Wirkung. Die Schwächen, die man dem deutschen Kino manchmal zuschreibt, gereichen ihm stellenweise sogar zum Vorteil. Auch wenn der Film sich in seinem letzten Drittel etwas verliert, liegt ein Wert in seinem scharfsinnigen Blick auf die Gegenwart. Dieser Film hat doch nur euer Bestes im Sinn.

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