Eines der Indie-Highlights des Jahres!
Von Björn Becher„Basierend auf einer wahren Lüge“, steht am Anfang von Lulu Wangs „The Farewell“. Denn die in China geborene, aber schon in ihrer Kindheit mit ihren Eltern in die USA emigrierte Filmemacherin erzählt in ihrem zweiten Spielfilm die sehr persönliche Geschichte ihrer großen Liebe zu ihrer Großmutter und einer entscheidenden Lüge. Dies schildert sie mit so viel Herz und Humor, dass „The Farewell“ einer der bewegendsten Filme des Kinojahres 2019 ist. Doch richtig beeindruckend ist das berührende Drama vor allem, weil Wang sich nicht nur auf die Kraft der Worte und ihre herausragende Hauptdarstellerin Awkwafina verlässt, sondern auch noch beeindruckende Bilder findet.
Die im Alter von sechs Jahren aus China in die USA gekommene Billi (Awkwafina) ist eine erfolglose New Yorker Schriftstellerin, die kaum ihre Miete zahlen kann. Als sich ihre Eltern (Tzi Ma, Diana Lin) noch komischer als sonst verhalten, während sie davon berichten, dass sie allein für die Hochzeit von Cousin Hao Hao (Chen Han) nach China reisen, ahnt sie, dass irgendwas nicht stimmt. Billi erfährt, dass ihre geliebte Großmutter, ihre Nai Nai (Zhao Shuzhen), nur noch wenige Monate zu leben hat. Eine Fake-Hochzeit dient der Familie als Vorwand, sich von der nichts ahnenden Oma zu verabschieden. Und Billi darf nicht mit, weil man ihr nicht zutraut, die Lüge aufrecht zu erhalten. Kurzerhand kratzt sie das nötige Geld zusammen und reist ihren Eltern trotz des Verbots hinterher…
Billi liebt ihre Nai Nai.
In dem sehr bekannten Radioprogramm „This American Life“ schilderte Lulu Wang unter dem Titel „What You Don’t Know“ eine knappe halbe Stunde lang das erste Mal die Geschichte, wie ihre Familie die Großmutter belog und ihr verschwieg, dass sie laut den Ärzten bald sterben wird. Anschließend entwickelte sie die eigene Geschichte zu ihrem zweiten Spielfilm weiter, den sie größtenteils im chinesischen Changchun, der Heimat ihrer Oma, über gerade einmal etwas mehr als drei Wochen hinweg drehte. Die Aufnahmen im Kreis der Familie führten sogar dazu, dass die jüngere Schwester von Nai Nai sich im Film selbst spielt – und die 59 alte Hong Lu erweist sich dabei mit forschem Auftritt und ernster Miene als zuverlässige Szenendiebin.
Ohnehin übertreffen sich die Darsteller hier gegenseitig – allen voran natürlich das Duo im Herz des Films. Die 75-jährige Zhao Shuzhen steht in ihrer Heimat China seit rund 60 Jahren auf der Bühne, zudem ist sie immer wieder im TV zu sehen. „The Farewell“ ist nun ihr erster großer Film und sie brilliert, weil sie ihre Nai Nai (ein chinesisches Kosewort für Großmutter) unglaublich vielschichtig anlegt. Da ist zum eine die herzensgute Omi, die man als Zuschauer direkt ins Herz schließen muss, wenn sie ihre Enkelin bestärkt, weiter an ihren Traum zu glauben, auch wenn es gerade nicht so läuft. Sie ist aber gleichzeitig auch die energische Macherin, die natürlich als Matriarchin gleich mal die ganze Hochzeitsorganisation an sich reißt und alle Familienmitglieder herumkommandiert.
Als Gegenstück brilliert Awkwafina („Crazy Rich“, „Ocean’s 8“), die von Wang besetzt wurde, obwohl die Regisseurin damals noch nichts von den Mainstream-Unternehmungen ihrer Hauptdarstellerin wusste. Die Kino-Senkrechtstarterin der vergangenen Jahre ist bisher natürlich vor allem für komödiantische Rollen bekannt. Und „The Farewell“ ist, auch wenn sie über viel Witz verfügt, eine dramatische Geschichte. In den dazu passenden Momenten vermittelt Multitalent Awkwafina gekonnt die Zerrissenheit von Billi, die es auf der einen Seite genießt, wieder an der Seite ihrer lebenslustigen Großmutter zu sein, aber andererseits dieser unbedingt die Wahrheit erzählen will – womit sie gerade diese Lebenslust zerstören könnte. Ein Gespräch mit Nai Nais jungem Arzt (den all ihre Verwandten gleich als perfekten Mann für Dauer-Single Billi ausmachen) über Für und Wider der Lüge beendet diesen Konflikt allerdings überraschend früh.
Denn ob Billi ihrer Großmutter nun die Wahrheit erzählen wird oder nicht, ist gar nicht der Motor des Plots. Regisseurin Wang verzichtetet nämlich auf jegliche Überdramatisierung. Sie erzählt so vor allem anhand ihrer Familie ganz nebenbei und erfrischend nonchalant von den Unterschieden zwischen Ost und West und Konflikten, die es so ähnlich dann doch überall gibt. Ihre Liebe zu ihren teilweise auch ein wenig überdrehten Verwandten, die noch in China leben oder in die USA bzw. nach Japan emigriert sind, verstärkt dabei die Warmherzigkeit, die „The Farewell“ so besonders macht und den Zuschauer in bester Stimmung aus dem Kino entlässt.
Eine einfach nur wunderbar verrückte Familie.
Vor allem zeigt sich Lulu Wang aber auch als herausragende Regisseurin. Gemeinsam mit ihrer Kamerafrau Anna Franquesa Solano („Bag Boy Lover Boy“) erschafft sie immer wieder einzigartige Bilder, mit denen nicht nur das passende Gefühl von Enge (und selten auch von Weite) vermittelt wird, sondern die angeordneten Personen schon durch ihre Stellung im Bild sprechen. Wer gerade im Zentrum, wer am Rand steht, hat so eine unterstreichende Aussage. Aber das Wichtigste ist: Das wirkt nie erzwungen, nie inszeniert, sondern ergibt sich immer natürlich.
Daneben verleiht sie durch ihre Inszenierung der Geschichte immer wieder zusätzlichen Schwung: Gerade die Fake-Hochzeitsparty wird so auch durch die Bilder ein wildes Fest. Ein Saufspiel der lieben Verwandten, bei dem die Kamera in der Mitte des runden Tischs platziert ist und im Kreis immer wieder ein anderes Gesicht die Leinwand füllen lässt, entwickelt mit seinen schnell auch an Geschwindigkeit zunehmenden Wechseln zwischen den immer stärker abgefüllten Verwandten einen selbst schon berauschenden Sog. In anderen Momenten entschleunigt Wang das Geschehen dann und greift auf Zeitlupen zurück. Und selbst in diesen Momenten wirkt „The Farewell“ nicht inszeniert, sondern es erschein plötzlich ganz selbstverständlich, dass sich Billi und Co. gerade in Slow-Motion bewegen.
Fazit: Lulu Wangs „The Farewell“ ist einer der bewegendsten, schönsten und bestaussehendsten Filme des Jahres!