Die ganze Last der Welt auf den Schultern
Von Oliver KubeSeit er 2009 in Michael Hanekes „Das weiße Band“ und Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“ mitgespielt hat, zählt der Theaterstar Rainer Bock auch im Kino und TV zu den meistbeschäftigten deutschen Charakterdarstellern. Seine Qualitäten haben sich inzwischen soweit herumgesprochen, dass er längst auch in großen internationalen Produktionen wie dem australischen Abenteuerfilm „Spuren“, Steven Spielbergs „Gefährten“ oder der britischen TV-Serie „SS-GB“ besetzt wird. Zuletzt spielte Bock zudem über mehrere Episoden hinweg einen wichtigen Part in der vierten Staffel von „Better Call Saul“. Und doch hat dem gebürtigen Kieler bis jetzt niemand eine große Hauptrolle angeboten. Diesen Missstand beseitigt nun Regisseur David Nawrath, der für seinen Erstling, das intensive Drama „Atlas“, niemand anderen haben wollte als ihn. Zu Recht, wie Bock mit einer stoischen und dennoch immens kraftvollen Performance beeindruckend unter Beweis stellt.
Walter (Rainer Bock) ist 60 und Möbelpacker. Im Auftrag ihres Chefs Roland (Uwe Preuss) sind er und seine Kollegen hauptsächlich damit beschäftigt, Zwangsräumungen in Altbauwohnungen der Frankfurter Altstadt durchzuführen. Roland steckt mit einem kriminellen Kurden-Klan unter einer Decke, der die Mieter aus den Häusern heraushaben will – falls nötig mit Gewalt. Denn nur so lassen sich die Bauten luxussanieren und gewinnträchtig weiterverkaufen. Das alles ahnt Walter zwar, sagt aber nichts dazu. Irgendwann stehen die Männer vor der Tür von Jan (Albrecht Schuch), der sich strikt weigert, den Klagen und Drohungen nachzugeben. Der junge Mann will sein Heim einfach nicht verlassen – was ihn sowie seine kleine Familie in größte Gefahr und Walter endlich zum Handeln bringt. Denn der Möbelpacker hat in Jan seinen Sohn erkannt, den er vor mehr als 30 Jahren im Stich lassen musste...
Die ganze Last der Welt auf seinen Schultern: Rainer Bock als Möbelpacker Walter.
Zu Anfang gibt es kaum Dialoge oder besonders aufregende Situationen. Der Film lässt sich Zeit, uns seinen Protagonisten näher zu bringen. Und Walter ist ein eher wortkarger Vertreter. Wir beobachten ihn beim Schleppen schwerer Einrichtungsstücke und beim morgendlichen Bankdrücken in seiner trostlosen Wohnung. Oder wie er am Ende eines - offenbar mal wieder sehr harten - Tages nach Hause kommt. Walter streift seinen ledernen Tragegurt ab, der fast wie eine Art Rüstung wirkt, und legt sich im Unterhemd rücklings auf den kalten Küchenboden. Da knacken die Knochen und die Lunge pfeift. Für einen Mann, der offenbar seit Dekaden knüppelhart schuftet, ist er trotzdem noch immer erstaunlich gut in Form – ein Umstand, der für den Fortgang der Story nicht unwichtig ist.
Der eigentlich eher unauffällig gebaute Bock, der, wie just in der TV-Serie „Das Boot“, oft fiese, dabei aber gebildete und wortgewandte Bürokraten gibt, sah sich selbst zunächst als Fehlbesetzung. Er hielt jemanden wie den deutlich imposanter erscheinenden Josef Bierbichler für die offensichtlichere Wahl. Zum Casting ging er wegen des ihm zusagenden Skripts dennoch. Was sich für den Film und nun auch das Publikum als Riesenglück herausstellen sollte. Der Mime wirft sich mit allem, was er hat, in diesen Part: Um einen ehemaligen Gewichtheber glaubhaft spielen zu können, nahm er sich einen persönlichen Trainer und arbeitete fast ein Dreivierteljahr mehrmals pro Woche an seiner Fitness.
Gleichzeitig eignete er sich eine passende Körpersprache an, die man vom Darsteller so bisher nicht gesehen hat: Als Walter geht er etwas gebückt und breitbeinig, dazu mit leicht abgespreizten Armen. Er befindet sich quasi permanent in einer Art Lauer- beziehungsweise Kampfstellung. Obendrauf kommen Bocks ohnehin schon oft mehr als Worte sagenden Augen sowie seine subtile Mimik. So ist er ab der ersten Einstellung glaubhaft als dieser verschlossen-melancholische Mann, dessen Handlungen sich für den Zuschauer erst im Verlauf der Handlung immer weiter erschließen.
Das Ganze hätte schnell in eine plumpe Anklage abdriften können: Wieso lässt der Staat beziehungsweise die Gesellschaft solche Machenschaften im Namen sozioökonomischen Strukturwandels (Gentrifizierung) innerhalb hiesiger Städte zu? Dieser Aspekt wurde im Kino bisher selten aufgegriffen und wäre sicher lohnend. Doch Nawrath entscheidet sich dankenswerterweise klar für ein nachdenkliches Charakterdrama, das eine faszinierende Vater-Sohn-Geschichte erzählt. Der Filmemacher lässt seinem Star in diesem durchdachten und für einen Debütanten erfreulich unaufgeregt inszenierten Werk viel Luft zur Entfaltung der Figur.
Bei der Leistung von Rainer Bock fragt man sich schon, warum es mit der ersten großen Hauptrolle so lange gedauert hat.
Walter ist von der ersten Minute an nahezu ununterbrochen auf der Leinwand. Nur in der als eine Art Koda funktionierenden, finalen Szene ist er nicht dabei und trotzdem allgegenwärtig. In manchen Sequenzen mag er nur eine Randgestalt sein; aber gerade diese sind wichtig, um ihn verstehen zu können. Etwa als der dem distanzierten Walter von allen Kollegen noch am nächsten stehende Gerichtsvollzieher Alfred (Thorsten Merten, „Gundermann“) von einem brutalen Möbelpacker (Roman Kanonik, „Solness“), der offenbar zu den Gangstern gehört, zusammengeschlagen wird. Walter unternimmt nichts, sieht sogar bewusst zur Seite. Statt einzugreifen wäscht er sich lieber die Hände.
Auch sonst hält der Mann sich lange aus allem raus. Aber nicht, weil er ein Feigling wäre. Nein, er, der in diesen Augenblicken wirkt, als trüge er – wie der titelgebende Titan aus der antiken griechischen Mythologie – tatsächlich die gesamte Last der Welt auf seinen, glücklicherweise kräftigen Schultern, hat nachvollziehbare Gründe für diese Entscheidung. Die werden dem Zuschauer vom Drehbuch auf kluge Weise zum exakt richtigen Zeitpunkt offenbart. Genau wie der Moment, als sich Walter entscheidet, eben nicht mehr wegzuschauen. Nicht nur hier hat Nawrath alles richtig gemacht. Mit Spannung und Vorfreude dürfen wir nach diesem beeindruckenden Auftakt dessen nächste Projekte erwarten.
Fazit: „Atlas“ ist ein atmosphärisches, intensives Charakterdrama, das mit einfachen, erstaunlich effizient eingesetzten Mitteln sowie einem exzellent aufspielenden Rainer Bock berührt und zum Nachdenken anregt.