Wer über die großen Klassiker des deutschen Kinos spricht, kommt an manch einem Film unmöglich vorbei. Zum Beispiel an den frühen Stummfilmklassikern, an Fritz Lang (Metropolis) und F.W. Murnau (Nosferatu, eine Symphonie des Grauens), oder an der umstrittenen Leni Riefenstahl („Olympia“) und dem „Nachkriegsklassiker“ Wolfgang Staudte („Die Mörder sind unter uns“). Dieser Jemand landet zwangsläufig beim deutschen Autorenfilm, beim Jungen Deutschen Film der Sechziger- und Siebzigerjahre, also bei Peter Schamoni („Jagdszenen aus Niederbayern“), Volker Schlöndorff (Die Blechtrommel) und Edgar Reitz („Heimat“). Und bei der zweiten Welle dieser Bewegung, bei Werner Herzog (Fitzcarraldo), Rainer Werner Fassbinder (Die Ehe der Maria Braun) und Wim Wenders. Und wenn er dann bei Wenders angekommen ist, scheint es unmöglich, nicht über dessen große Klassiker zu reden, über Paris, Texas, Bis ans Ende der Welt und – man ahnt es schon – „Der Himmel über Berlin“. Der ist nämlich einer der bedeutenden Klassiker der Filmographie Deutschlands und wurde völlig zu Recht mehrfach ausgezeichnet, zum Beispiel 1987 in Cannes für die beste Regie und ein Jahr später mit dem Europäischen Filmpreis, ebenfalls für die beste Regie.
„Als das Kind Kind war, ging es mit hängenden Armen, wollte der Bach sei ein Fluss, der Fluss sei ein Strom, und diese Pfütze das Meer.“
Berlin 1987. In kunstvollen Schwarzweiß-Aufnahmen streift der Engel Damiel (Bruno Ganz) in Begleitung seines Freundes Cassiel (Otto Sander) durch Berlin, das nach wie vor durch die Mauer geteilt ist (wodurch der Titel zur Allegorie wird). Von den Menschen nicht zu erkennen, lauschen die beiden aufmerksam und geduldig deren Gedanken und Gesprächen. Mit steigender Neugierde wendet Damiel sich seinen Schützlingen zu und verliebt sich letztlich in die Akrobatin Marion (Solveig Dommartin). Seine Suche nach menschlichen Gefühlen, nach Leidenschaft, Sehnsucht, Kummer, Schmerz, wird immer größer und er entschließt sich dazu, seine Unsterblichkeit gegen eine irdische Existenz als Mensch einzutauschen. Plötzlich sieht er die Welt in Farbe und findet sich Stück für Stück in seiner neuen Existenz zurecht, mit all ihren Vor- und Nachteilen, Hochs und Tiefs. Dabei steht ihm ein anderer „ehemaliger“ Engel (Peter Falk, „Columbo“) zur Seite.
„Als das Kind Kind war,
war es die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich und warum nicht du?
Warum bin ich hier und warum nicht dort?
Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?“
Wim Wenders selbst hält seinen Film für „eine Art Filmgedicht“ und liegt damit gar nicht falsch. Denn am ehesten ist die Erzählweise als lyrisch zu bezeichnen: Gedanken- und Gesprächsfetzen, Fragmente von Begegnungen und Eindrücken setzen sich zu einem Porträt des Menschseins zusammen. Die oben skizzierte Rahmenhandlung spielt im Film keine überragende Rolle, eine Dramaturgie im klassischen Sinn gibt es nicht. Es gab auch kein Drehbuch, sondern lediglich ein paar Dialoge von Peter Handke (der auch das hier in Auszügen zitierte Gedicht geschrieben hat) und eine Art Blackboard mit verschiedenen, unzusammenhängenden Ideen, die nach und nach gedreht wurden und im Lauf der Zeit eine Eigendynamik entfalteten. Es ist die so entstandene Lyrik, diese Szenenskizzen und Fragmente, dieses Elliptische und neu Zusammensetzbare, was „Der Himmel über Berlin“ im Kern ausmacht. Im Gegensatz zu „Stadt der Engel“, dem Hollywood-Remake des Films mit Nicolas Cage und Meg Ryan, besitzt Wenders‘ Film keine tragischen Zuspitzungen, sondern entfaltet sich in einem stetigen, langsamen Fluss, der viel Freiraum für Assoziationen lässt.
Für „Der Himmel über Berlin“ kehrte Wenders in sein Heimatland Deutschland zurück, nachdem er acht Jahre lang in den USA gelebt hatte, um sein Land neu zu entdecken und erforschen. Ein Jahr zuvor hatte er mit „Paris, Texas“ die Goldene Palme in Cannes gewonnen und sah sich den hohen Erwartungen an seinen nächsten Film ausgesetzt. Jeder erwartete „denselben Film noch einmal“, aber Wenders wollte etwas völlig anderes machen, etwas, mit dem keiner rechnen würde – und das hat er geschafft. Sein zentrales Motiv, das der Reise, wird hier nicht in einem Road Movie, sondern in einem Streifzug durch die Großstadt Berlin, in einer Reise durch das Innere, eingelöst. Vor der Uraufführung in Cannes war der Regisseur daher auf einen Verriss vorbereitet, doch das genaue Gegenteil trat ein: „Der Himmel über Berlin“ wurde nicht nur prämiert, sondern enthusiastisch gefeiert.
„Als das Kind Kind war,
warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum,
und sie zittert da heute noch.“
Sicher: Die Langsamkeit und Ziellosigkeit des Films ist nicht jedermanns Sache. Leicht kann „Der Himmel über Berlin“ als elitär, prätentiös, bemüht kunstvoll oder einfach nur langweilig abgetan werden. Das passiert aber nur, wenn der Zuschauer sich passiv verhält. Er ist aufgefordert, mehr noch: gezwungen, sich in die Bilder und Momente hinein zu denken. Er muss wie die Engel im Film genau hinsehen und -hören. Nur dann kann der Film ihn auf seine lyrische Reise mitnehmen.