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    "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen"
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen"

    Das erste 5-Sterne-Meisterwerk 2019!

    Von Lucas Barwenczik

    Kostüm- und Historienfilme können eine absurde Angelegenheit sein. Bekannte Stars und Drehbücher werden in wallende Gewänder gestopft und schon halten viele das Ergebnis für Geschichte. In einer sympathischen Szene aus dem neuen Film des rumänischen Regisseurs Radu Jude lacht die Hauptfigur einen alten Historienschinken einfach aus. Gelacht wird darüber, dass es nichts zu lachen gibt, denn im Fernsehen wird gerade der ehemalige Diktator Ion Antonescu regelrecht heiliggesprochen. Also jener General, der im Jahr 1941 über seine Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs den Satz sagte, den Judes Film nun als Titel trägt: „Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen“. Die hochintelligente, wütende und oft erstaunlich komische Tragikomödie spottet über die Illusion, man könnte mit Kameras einfach die Vergangenheit filmen. Es geht um die permanente Arbeit an und mit der Geschichte, auf und jenseits der Leinwand. Um die Frage, was man im Kino zeigen kann und wie. Und um den Kampf gegen alle, die sich mit gefälligen Bildern abspeisen lassen. Das Ergebnis ist eine fulminante Anklageschrift und einer der bemerkenswertesten Filme des Jahres.

    Ich bin nicht dafür bestimmt, geliebt zu werden“, beurteilt sich Protagonistin Mariana Marin (gespielt von Ioana Iacob) während einer Diskussion selbst. Tatsächlich macht sich die Theater-Regisseurin, die vor allem historische Reenactments inszeniert, mit ihrem neuen Projekt keine Freunde. Statt wie üblich große Siege der Rumänen gegen grausame Invasoren zu zeigen, will sie sich mit der Schuld des Landes am Holocaust auseinandersetzen. Ein Tabuthema, mit dem sie überall auf Widerstand stößt. Nicht nur bei Vorgesetzten und Geldgebern, sondern sogar bei ihren eigenen Darstellern und Freunden. Ermüdet von den endlosen Diskussionen verspricht sie, eine abgemilderte Form der Ereignisse zu zeigen – doch ihre tatsächlichen Pläne sehen anders aus...

    Historische Reenactments sollen den Geist der „Guten alten Zeiten“ wiederaufleben lassen, Radu Jude verwandelt sie hingegen in eine Heimsuchung. Er will sich mit dem Mord an 300.000 Juden im Rahmen des Holocaust in Rumänien beschäftigen. Noch heute ist dort die Meinung weit verbreitet, die Bevölkerung des Landes würde daran keine Mitschuld tragen. Natürlich hätte Radu Jude einfach einen klassischen Kostümfilm über Rumänien während des Zweiten Weltkriegs drehen können. Doch als Filmemacher der „rumänischen Neuen Welle“ sucht er eine andere Herangehensweise als die ihm vorhergehende Generation von Regisseuren. Er entscheidet sich für einen Film über das Filmemachen. Und so blickt er indirekt auf den Kern seiner Geschichte:

    Die düstersten Momente der Vergangenheit könnte man mit der griechischen Sagengestalt Medusa vergleichen: Schaut man zu unmittelbar auf sie, kann einen der Schrecken lähmen und abstumpfen. Judes Film nähert sich dem Horror also wie Perseus, der die Medusa bekämpft, indem er nur ihre Spiegelung in einem Schild betrachtet. Ein wenig Abstand hilft oft, das große Ganze besser zu verstehen.

    In der Tragikomödie sieht man also Figuren – mehr oder weniger unmittelbar - über die Frage der Schuld streiten. Es ist ein Film der Diskussionen, die immer wieder eskalieren. Ein Hybrid aus Dokumentation und Spielfilm, der Argumente sogar sehr offen zitiert. Dazu lesen die Figuren längere Passagen aus Büchern vor oder schauen Ausschnitte aus anderen Filmen. Fotografien, etwa von den Opfern des Antonescu-Regimes, füllen mehrmals den ganzen Bildschirm. (Dieselbe visuelle Strategie hat Radu Jude schon in seinem Experimentalfilm „Die tote Nation“ eingesetzt, der nur aus Standbildern besteht.) All diese Objekte sind physisch in der Filmwelt vorhanden, weil dem Regisseur wichtig ist, wie die fiktiven Figuren auf das Material reagieren. Lachen sie? Sind sie verstört oder irritiert? Werden sie wütend?

    Marianas Privatleben und ihre Beziehung spielen keine große Rolle, weil sie völlig in ihrer Arbeit aufgeht. Sie hat viele Gegner und Gegenfiguren. Selbst Passanten pöbeln sie stellenweise an und wollen sie zurechtweisen. Wie kann sie es wagen, Ion Antonescu, Priester, Poeten und Rumänien insgesamt so zu verunglimpfen? Die meisten geben einfach die bequemen „Wahrheiten“ wieder. Immer wieder filmt Radu Jude die kleine Regisseurin, umgeben von ihren körperlich größeren Kritikern. Sie wird dadurch nie ein passives Opfer, aber ihre Frustration wird greifbar. Die Widerstände, die sie überwinden muss, sind enorm.

    Doch Radu Jude macht es sich nicht so leicht, einfach nur Strohmänner zu verbrennen. Auch die Gegner der Theater-Regisseurin haben Argumente. Der erstaunlichste Antagonist ist der scharfsinnige Beamte Movila, gespielt von Alexandru Dabija. Er stellt Marianas Intentionen in Frage: Will sie nur provozieren, um ihre Karriere voranzutreiben? Geht es ihr nur darum, andere Menschen zu schocken? Kompensiert sie mit den Reenactments einfach persönliche Probleme? In einer bitterbösen Passage spricht er über den Darwinismus unter den Massakern – nur die größten, schrecklichsten unter ihnen überleben im öffentlichen Bewusstsein. Wenn Mariana eine so große Menschenfreundin ist, warum inszeniert sie nicht die Taten der Kommunisten? Oder gar den deutschen Völkermord an den Herero und Nama? Movila ist wortgewandt und flirtet sogar ein wenig mit Mariana.

    Die vielen verbalen Duelle sind voll von Verve und Esprit, aber die Rhetorik ist nie Selbstzweck. Es sind keine tänzelnden Schaukämpfe, wie jene bei „West Wing“- und „Steve Jobs“-Autor Aaron Sorkin. Jeder Angriff soll treffen und Schaden anrichten. Ein großer Teil des schwarzen Humors entspringt solchen Disputen. Oder eben aus der Popkultur: Auf Panzern sitzende Darsteller in voller Marschausrüstung singen Disco-Songs. Man erfährt, dass die deutschen Uniformen für die Show gerade von einem anderen Filmset kommen – dem von „Zombies vs. Wehrmacht“.

    Über die Laufzeit des Films hinweg entsteht eine merkwürdige Atmosphäre. Düster und bedrückend ist der Film nie, weil die Figuren permanent mit- und übereinander scherzen. Aber die Beiläufigkeit, mit der sie zum Hitlergruß ausholen oder über attraktive Nazis in eleganten Hugo-Boss-Uniformen witzeln, weckt auch Ablehnung. Das eigene Lachen wird Teil des Unbehagens. Diese Spannung nimmt immer weiter zu, bis sie sich im großen Finale entlädt. Das abschließende Reenactment ist mittreißend umgesetzt. Einige Wendungen überraschen nicht unbedingt, aber das ist auch gar nicht beabsichtigt. Man sieht das unvermeidbare Ende und läuft doch ins offene Messer. Man begreift, was passiert und warum es passiert, aber man wünscht, es wäre anders.

    Fazit: Vergangenheitsbewältigung nicht als einmaliger Prozess, der irgendwann abgeschlossen ist, sondern als anhaltender Kampf. „Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen“ unterhält und verstört im gleichen Maße. Auch wenn der Film von der rumänischen Geschichte erzählt, sind seine Ideen und Bilder von universeller Bedeutung.

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