Netflix gelingt, was Disney nicht mehr schafft!
Von Sidney ScheringJahrzehntelang war Zeichentrick die dominierende Kunstform innerhalb der Welt des Animationsfilms. Durch den mit „Toy Story“ in Gang gebrachten Erfolg von Pixar, der computeranimierten Filme aus dem Hause DreamWorks Animation („Shrek“) sowie diverser Projekte von Blue Sky Studios („Ice Age“) und den „Minions“-Machern Illumination Entertainment hat sich dies allerdings längst geändert: Von Hand gezeichnete Trickfilme sind – zumindest im Mainstream – zu einer Rarität geworden. Nun aber können sich Fans des Mediums nach langer Wartezeit wieder über eine abendfüllende, westliche Zeichentrickproduktion mit solidem Budget freuen. Verantwortlich für „Klaus“ sind einerseits Netflix (der Streamingdienst stieg 2017 mit einem größeren Geldbetrag in den schon seit 2010 in Entwicklung befindlichen Film ein) und andererseits die spanische Filmschmiede Sergio Pablos Animation Studios.
Sergio Pablos, der bei Disney unter anderem für das Figurendesign in „Der Goofy Film“, „Der Glöckner von Notre Dame“ und „Tarzan“ zuständig war und später für Illumination Entertainment das computeranimierte „Ich – Einfach unverbesserlich“-Franchise mit aus der Taufe hob, feiert mit „Klaus“ nicht nur seine Rückkehr zum Zeichentrickfilm, sondern auch sein Debüt als Regisseur. Zusammen mit weiteren Disney-Animationsveteranen sowie den Drehbuchautoren Zach Lewis und Jim Mahoney nahm er sich zwei Dinge vor: Er wollte austesten, wie sich das Zeichentrickmedium wohl weiterentwickelt hätte, wenn es denn die großen US-Studios nicht im letzten Jahrzehnt weitestgehend ignoriert hätten! Und er wollte dem Weihnachtsmann eine ebenso frische wie rührende Ursprungsgeschichte verpassen. In beiden Fällen können wir erfreut sagen: Mission erfüllt!
Der unwahrscheinliche Held Jesper schafft es tatsächlich...
Jesper (Originalstimme: Jason Schwartzman) ist der schlechteste Briefträger, den seine Ausbilder je gesehen haben. Daher wird er im unwirtlichen Kaff Zwietrachting stationiert, das im hohen, eiskalten Norden liegt. Dort macht der trotz dieser Widrigkeiten muntere Geselle Bekanntschaft mit der frustrierten Lehrerin und Fischverkäuferin Alva (Rashida Jones) und dem ebenso grummeligen wie eigenbrötlerischen Spielzeugmacher Klaus (J. K. Simmons). Genau diese Freundschaften bringen dem dunklen Ort das Lachen zurück – doch der neu entdeckte Gemeinschaftssinn in Zwietrachting schmeckt aufgrund alter Animositäten nicht jedem…
Sergio Pablos setzt mit „Klaus“ handwerklich da an, wo Disney den Zeichentrickfilm einst fallen ließ: Schon in den frühen 1990er-Jahren sind schließlich von Hand gezeichnete Bilder und digitale Prozesse wie die Kolorierung eng verschmolzen. Später verknüpften Filme wie „Tarzan“ und „Der Schatzplanet“ beide Welten noch enger, um filigrane, dreidimensionale Hintergründe zu erschaffen. „Klaus“ vereint nun von Hand gezeichnete Figuren mit am Computer generierter, räumlicher Lichtsetzung und digital erzeugten Texturen, um einen organischen, komplexen Look zu erzeugen, der dennoch den liebevollen Charme des klassischen Zeichentricks bewahrt. Somit ist Sergio Pablos mit seinem Regiedebüt auf technischer Ebene innovationsfreudiger als es etwa der jahrzehntelange Innovationstreiber Disney mit seinen bislang letzten abendfüllenden Zeichentrickfilmen „Küss den Frosch“ und „Winnie Puuh“ war.
Innovation allein genügt bekanntlich nicht für einen rundum gelungenen Film, doch „Klaus“ hat eben auch noch mehr zu bieten. Das Filmteam, dem unter anderem die Disney-Animatoren-Legende James Baxter (ihm verdanken wir den Look von Figuren wie Arielle, Belle und Rafiki) angehört, verwendet die nahezu nahtlose Verschmelzung aus Zeichentrick und Computertricks für einen bezaubernden Effekt: Die herzlich karikierten Figuren in „Klaus“ muten auf der einen Seite an wie aus einem liebevoll gezeichneten, ausgiebig schattierten Bilderbuch. Zudem bewegen sie sich aber auch mit der losgelösten Dynamik eines klassischen Zeichentrickfilms, wo solche Bewegungen deutlich ausdrucksstärker und freier akzentuiert werden als im CG-Kino üblich. Das verleiht „Klaus“ auf der Bildebene Märchengefühl und Vitalität zugleich.
Zugleich würzt Pablos sein Storytelling aber auch effektiv durch eine digital unterstützte Lichtsetzung und Farbgebung: Das verwinkelte, wenig einladende Zwietrachtingen mit seinen wackligen Bauten und seiner einschüchternden Skyline wird eingangs in Weiß, Schwarz und nebulösem Grau dargestellt. Doch so in Zwietrachtingen sukzessive Freude und Freundlichkeit Einzug erhalten, gewinnt „Klaus“ Schritt für Schritt an Farbspektrum und warmen Lichtern. Pablos verzichtet dabei auf ein drastisches Vorher/Nachher, sondern geht graduell vor und beweist Fingerspitzengefühl für die atmosphärischen Bedürfnisse einer jeden Szene – so erstrahlen auch einzelne Szenerien in der „frohen“ Hälfte in sattem Schwarz und schimmerndem Rot-Orange, oder aber in kühlen, wenngleich einladenden Blau-Lila-Farbverläufen.
... in Zwietrachting wieder einen echten Gemeinschaftssinn zu entfachen.
Die Figurenentwicklung verläuft ähnlich behutsam und organisch: Wir lernen Jesper als verwöhntes und arbeitsscheues Reichensöhnchen kennen, dem man aufgrund seiner fidelen Animation und Jason Schwartzmans freundlich-neckischem Timbre aber trotzdem nicht böse sein kann. Jespers Alleinunterhalterqualitäten sind es auch, die ihn schon zum Sympathieträger machen, wenn er sich in Zwietrachtingen bloß deshalb hinter seine beruflichen Pflichten klemmt, um den Anforderungen seines Chefs und Vaters gerecht zu werden.
Dass aus dem gewitzten Egozentriker ein Vollblut-Menschenfreund wird, ist natürlich alles andere als überraschend, wird aber überzeugend umgesetzt. Bei Titelfigur Klaus wird das altbekannte Klischee des wortkargen Riesen mit rauer Schale und weichem Kern so angepackt, dass es nicht aufgesetzt und einfallslos wirkt. Wenn beim Anblick spielender Kinder Klaus' Augen leuchten oder J. K. Simmons' grantige Stimme öfter und öfter Satzfetzen in freundlichen Kadenzen vorträgt, wird dieser Noch-nicht-Weihnachtsmann zu einem tatsächlich charismatischen Brummbären statt zu einem wandelnden Stereotypen.
Nur auf musikalischer Ebene ist der mit pointiertem Slapstick und überraschenden Antworten auf die Herkunft diverser Weihnachtsmann-Mythen bestückte Film eher beliebig: Alfonso G. Aguilars Score ist funktional, erschafft aber keine bleibenden Leitthemen für die Figuren; und ob der Einsatz moderner Popstücke in den Montagen einer zeitlosen Erzählung sein muss, liegt wohl auch im Ohr des Betrachters. Ebenso wirkt die Figur der Alva leider mehr wie ein Nebengedanke der Filmschaffenden und nicht wie ein gut integrierter oder gar elementarer Teil der Story. Der Kern der Erzählung ist dennoch wirkungsvoll und universell gültig: Ohne belehrenden Zeigefinger, sondern mit vorsichtig dosiertem Witz und gesundem Pathos sagt „Klaus“, dass jede gute Geste eine weitere nach sich zieht und dieser Zauber der Menschlichkeit mehr Wert hat als vergänglicher Komfort.
Fazit: „Klaus“ vereint beherztes Zeichenhandwerk und moderne Tricktechnik zu einer sehr charmanten Verpackung für eine liebevolle, kurzweilige Weihnachtsgeschichte, die ihre Sentimentalität zielgenau einzusetzen weiß.