Ein Jahr im Leben eines Rentier-Babys
Von Markus FiedlerWie witzig und unterhaltsam eine Tier-Dokumentation sein kann, bewies schon 1974 der südafrikanische Filmemacher Jamie Uys mit „Die lustige Welt der Tiere“. Wer den wunderbaren Klassiker einmal gesehen hat, vergisst nie wieder die betrunkenen Affen und Elefanten oder den Pavian, der zweimal unter den gleichen Stein schaut, obwohl schon beim ersten Mal eine Schlange darunter gelegen hat. Trotz des Titels spart Uys aber auch traurige Momente in der Natur nicht aus – so werden sich die Pelikanküken in der Wüste jedem Zuschauer ins Gedächtnis gebrannt haben. Mit einem ganz ähnlichen Konzept hat der französische Regisseur Guillaume Maidatchevsky nun „Ailos Reise“ gedreht. Ein Jahr lang begleitet er darin ein neugeborenes Rentier durch die eisigen Weiten Lapplands. Aus dem Off wird das Geschehen mal ernst, oft aber auch sehr humorvoll kommentiert. So gelingt Maidatchevsky ein kleines Doku-Juwel, das ohne falsche Niedlichkeit ein optisch herausragendes Portrait der Landschaft und der Tiere des Nordens zeichnet und sowohl kleine wie große Zuschauer verzaubern wird.
Es ist April. Die Rentiere Lapplands verlassen ihr Winterquartier auf den Gebirgsgipfeln und ziehen hinunter in die Täler, wo sie den Sommer verleben und ihre Jungtiere zur Welt bringen werden. Doch eine der Kühe spürt, dass sie zu früh dran ist und sucht sich abseits der Herde, die ohne sie weiterzieht, einen Platz für die Geburt ihres Kalbs. Ailo heißt das kleine Rentier, das beinahe schon die ersten Minuten auf der Welt nicht überlebt, als die Mutter erst ihrem Instinkt, so schnell wie möglich zur Herde zurückzufinden, folgt. Doch zum Glück siegt das Mutterherz und die Ren-Kuh kehrt zu ihrem Kleinen zurück. In seinen ersten Lebenswochen lernt Ailo danach auf dem Weg zu den Weidegründen nicht nur die Verwandtschaft kennen, sondern begegnet auch einer Menge anderer Tiere wie dem Hermelin oder dem Vielfraß. Und nicht alle Begegnungen sind harmlos. Besonders ein Wolfsrudel, das sich auf die Fährte der Rentier-Herde gesetzt hat, bedroht Ailo und die anderen Tiere…
Da die Protagonisten selbst nicht sprechen, stehen und fallen Tier-Dokumentationen oft mit dem Off-Kommentar. Für die deutsche Fassung der französischen Produktion wurde Anke Engelke gewonnen – eine perfekte Wahl: Die Komikerin, Schauspielerin, Moderatorin und Synchronsprecherin (u. a. „Findet Dorie“) führt mit ruhiger Stimme durch den Film und erzählt dabei nicht nur die großen und kleinen Geschichten, die der Film bietet. Vor allem begleitet sie die jungen Zuschauer auch durch die eine oder andere dunkle Szene, ohne das Gesehene zu verharmlosen. Wenn ein Wolf im Film ein Rentier reißt, dann wird das auch thematisiert. Zwar zeigt Maidatchevsky nie explizite Gewalt, aber er lässt auch keinen Zweifel daran, dass eben auf der Leinwand ein Tier einem anderen zum Opfer gefallen ist. Engelkes erklärende Worte fangen aber eventuelle Panik bei kleineren Kindern wunderbar auf und machen in einfachen Sätzen klar, dass dieser Kreislauf der Natur seine Notwendigkeit hat und eben zum Leben dazu gehört.
„Ailos Reise“ bietet so nicht nur großartige Tieraufnahmen, sondern wird durch die klugen Kommentare aus dem Off auch zu einer Art philosophischer Exkursion über das Leben, die so einfach gehalten ist, dass auch ganz junge Zuschauer verstehen, worum es geht. Das ist gleichzeitig aber auch so tiefgründig, dass erwachsene Zuschauer genauso mitgenommen werden. Denn Regisseur Maidatchevsky schlägt gekonnt den Bogen vom kleinen Rentier und den täglichen Gefahren, denen es ausgesetzt ist, zu großen Themen wie zum Beispiel die sich durch den Klimawandel ständig wechselnden Lebensbedingungen im hohen Norden. So wird „Ailos Reise“ in seinen stärksten Momenten zu einer Art Schwanengesang auf ein Paradies, dessen Zeit wahrscheinlich bereits abgelaufen ist. Dabei verliert Maidatchevsky aber nie die Leichtigkeit, die ein solcher Film braucht, damit er nicht zu düster oder zu verkopft wird.
Hier kommt der Humor ins Spiel, für den vor allem der heimliche Star des Films verantwortlich ist. Von Anke Engelke wird er so eingeführt: „Es gibt Tiere, bei denen man allein durch Beobachtung schon in einen Zustand der Ruhe und Entspannung verfällt. Das Hermelinweibchen ist das Gegenteil davon.“ Dieser hyperaktive Kleinräuber sorgt dann auch sofort für die witzigste Szene des ganzen Films. Aber nicht nur wegen dieses großartigen Moments könnte „Ailos Reise“ in einigen Jahren in einem Atemzug mit „Die lustige Welt der Tiere“ als besonders gelungene Tier-Doku mit viel Herz und Hirn genannt werden.
Fazit: Optisch beeindruckend, auch in unangenehmen Szenen ehrlich und dazu noch immer wieder sehr lustig. „Ailos Reise“ macht das Leben der Tiere im hohen Norden nicht nur für kleine Zuschauer umfassend erlebbar.