Alles beginnt mit einem rätselhaften und beinahe schwindelerregenden Kameramanöver, das den Zuschauer in geheimnisvolle (Unter-)Welten führt. Schon mit diesen allerersten Einstellungen etablieren die italienischen Filmemacher Fabio Grassadonia und Antonio Piazza eine buchstäblich knisternde Atmosphäre zwischen Traum und Albtraum – und das ist nur der Auftakt für eine erstaunliche Gratwanderung, die das Regieduo bis zum Ende durchhält. Eine Gratwanderung zwischen träumerischer Romanze und grausamem Horror, zwischen ernüchternder Realität und mythisch aufgeladener Natur-Fantasie, zwischen anspruchsvoller Filmkunst und packendem Genrekino. „Sicilian Ghost Story“ vereint ganz unterschiedliche Erzähl- und Kinowelten und so fand die faszinierende Mischung aus Fantasy, Teenagerliebesgeschichte und Mafiathriller nicht nur auf dem elitären Festival von Cannes (wo er die Semaine de la critique eröffnete) ihren Platz, sondern wird auch beim Fantasy Filmfest 2017 als Centerpiece zu sehen sein.
1993, ein Dorf in Sizilien: Nach der Schule folgt die 13-jährige Luna (Julia Jedlikowska) ihrem Klassenkameraden Giuseppe (Gaetano Fernandez), für den sie – nicht ganz so heimlich – schwärmt. Als er sie im Wald entdeckt, zieht er sie zunächst auf und schnappt sich den Liebesbrief, den sie für ihn geschrieben hat. Später am Nachmittag nimmt der passionierte Reiter Luna mit zu seinen Pferden. Doch dann ist Guiseppe von einem Moment auf den anderen plötzlich verschwunden, auch an den nächsten Tagen hört Luna nichts mehr von ihm, in der Schule bleibt sein Platz leer. Statt nach dem verschwundenen Jungen zu suchen, herrscht im ganzen Dorf bloß betretenes Schweigen. Während Lunas Mutter (Sabine Timoteo, „Der freie Wille“) eh nicht möchte, dass sich ihre Tochter mit Giuseppe abgibt, weil im Ort böse Geschichten über dessen Vater kursieren, beschließen Luna und ihre Freundin Loredana (Corinne Musallari), etwas auf eigene Faust zu unternehmen…
In der Aufzählung der Genres, die in „Sicilian Ghost Story“ zumindest gestreift werden, fehlt noch das Mystery-Drama, denn was uns Fabio Grassadonia und Antonio Piazza („Salvo“) in ihrem zweiten Langfilm präsentieren, ist auch ein erzählerisches Puzzle. So basiert ihr Werk zwar auf einer in Italien sehr bekannten wahren Geschichte und auf dem Roman „Un Cavaliere Bianco“ von Marco Mancassola, der ebenfalls von dieser realen Begebenheit inspiriert wurde, aber trotzdem scheint bei ihnen alles einer ganz eigenen Logik zu folgen. Nur ganz allmählich kommen die Details eines Kriminalfalls zum Vorschein, wichtiger sind aber sowieso die dazu gedichteten Elemente, die scheue und wagemutige junge Liebe, die Verzauberung, das Märchenhafte: Wenn Luna mit ihrer roten Jacke in den Wald läuft und ihr plötzlich ein großer schwarzer Hund den Weg versperrt, dann hat das definitiv etwas von Rotkäppchen und dem Wolf. Doch dann greift der „weiße Ritter“ Giuseppe ein und später verwandelt sich die Geschichte dann endgültig in ein modernes „Romeo und Julia“. Auch diesen Liebenden droht ein tragisches Schicksal, denn ihre Hingabe und ihre Träume, wie sie Luna in ihrem Brief an Giuseppe formuliert, haben in der sizilianischen Kultur des Schweigens und des Wegguckens keine Zukunft: Als der Junge den Liebesbrief in der aufwühlendsten Szene des Films liest, sagt er in die Einsamkeit hinein: „Ich kann hier nicht träumen.“
Die reinen Fakten der Krimihandlung sind niederschmetternd. Gleichgültigkeit, Angst, Brutalität und Niedertracht regieren. Aber der unausweichlichen Tragik setzen die beiden Regisseure Poesie und Menschlichkeit entgegen. So kommt einem die immer wieder auftauchende Eule zunächst wie eine Unglücksbotin aus der griechischen Sage vor, doch am Ende mag man in ihren ausdruckslosen Augen so etwas wie Trost erkennen: Die Natur führt ein Eigenleben und lässt sich nicht von den Menschen infizieren. Das Knistern des Laubes, das Knacken der Zweige, das Säuseln des Windes (das Sounddesign ist überragend) erzählen von einer Welt voller Rätsel und Wunder, genauso wie die leicht bewegte Oberfläche des Sees, die Wolken und die Sonne. Kameramann Luca Bigazzi („La Grande Bellezza“) gibt den Gegensätzen den jeweils passenden starken Ausdruck, findet eine ideale Balance zwischen Überhöhung und Realismus und nimmt immer wieder auch die Perspektive der Protagonistin ein, etwa wenn sie eine Treppe hinaufstürmt oder sich im Pferdestall umsieht.
Die beharrliche Luna (= Mond) und der engelhafte Giuseppe scheinen hier gleichsam die beiden einzigen lebendigen Menschen zu sein, ein Eindruck, der von den intensiven Darbietungen der Debütanten Julia Jedlikowska und Gaetano Fernandez noch verstärkt wird. Dagegen sind die Erwachsenen in Stumpfsinn oder Bitterkeit erstarrt. Der Kontrast wirkt zuweilen etwas aufdringlich, vor allem Lunas eisige Mutter mit ihrem strengen Scheitel und den altmodischen Kleidern wird so sehr zur Märchenhexe stilisiert (einmal reicht sie der Tochter gar einen Apfel, aber ihr Essen ist insgesamt ungenießbar), dass man mit ihren verzweifelten Tränen in einer späten Szene kaum etwas anfangen kann. Auch sie ist nur noch ein Phantom auf einer von zahllosen Geistern bevölkerten Insel.
Fazit: In „A Sicilian Ghost Story“ finden romantische Teenagerliebe, mythische Fantasy und knüppelharter Mafiafilm zu einem eindrücklichen Kinoerlebnis zusammen.