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    Pio
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Pio
    Von Ulf Lepelmeier

    Vom gestohlenen Auto zur authentischen Milieustudie einer italienischen Subkultur: Während der Dreharbeiten zu Jonas Carpignanos Kurzfilm „A Chjàna“, aus dem später sein Langfilmdebüt „Mediterranea“ werden sollte, stahl ein Mitglied der Romafamilie Amato in Kalabrien den Fiat Panda des Regisseurs. Die Verhandlungen zur Übergabe des Autos, indem sich das gesamte Filmequipment befand, wurden kurzerhand um einige Tage hinausgeschoben, als das alte Oberhaupt des Amato-Clans verstarb. Der Regisseur war fasziniert von der lauten, sich mit Diebstählen über Wasser haltenden Sippe und ihrem Credo, dass Blutsbande wichtiger sind als alle Geschäfte. So verbrachte Carpignano viel Zeit mit dem jungen Pio und seinen Angehörigen. Es entstand die Idee, einen Film, mit und über die Familie Amato zu drehen, aber erst nachdem Meisterregisseur Martin Scorsese („Taxi Driver“) in das Projekt investiert hatte, konnte Carpignano sein sehenswertes sozialrealistisches Coming-of-Age-Drama „Pio“ realisieren.

    Pio (Pio Amato) ist 14 Jahre alt. Ein Junge, der in einer harten, aber eng verbundenen Roma-Familiengemeinschaft aufwächst. Von seinem älteren Bruder Cosimo (Damiano Amato), dem er beständig hinterherläuft, wird Pio noch nicht für voll genommen, auch wenn er selbstbewusst und clever agiert. Als Cosimo und sein Vater im Gefängnis landen, findet Pio sich plötzlich in der Rolle des verantwortlichen Ernährers wieder. Er beginnt Koffer aus Zügen mitgehen zu lassen und Autos zu knacken. Die Diebstähle sind für ihn eine ganz normale Geldbeschaffungsmaßnahme, Reue und Bedauern kennt er nicht. Bei seinen Beutezügen unterstützt ihn Ayiva (Koudous Seihon), ein Flüchtling aus Burkina Faso, der mit seiner Herzlichkeit ein Freund und Mentor für den Jugendlichen wird. Pio beißt sich durch, ihm wird endlich mehr zugetraut und auch mehr Respekt entgegengebracht. Doch dann steht der Teenager zum ersten Mal in seinem Leben vor einer ungeheuren Entscheidung.

    „Pio“ ist ein dokumentarisch anmutender Film, in dem sich alle Personen selbst verkörpern – und einige Darsteller (darunter auch Pio Amato und Koudous Seihon) zugleich ihre Figuren aus „Mediterranea“ aufgreifen. Regisseur Carpignano porträtiert eine abgeschlossene Welt am Rande der italienischen Gesellschaft, in der die Menschen keine Perspektive auf Bildung, Jobs und Integration haben. Die fiktive Geschichte ist aus der Wirklichkeit gespeist und Pio, der den Film scheinbar mit Leichtigkeit trägt, spielt gleichsam sein Leben nach und lässt den Zuschauer daran teilhaben. Die Kamera ist dabei immer nah an dem Protagonisten dran und begleitet ihn auf seinen Streifzügen. Ganz unmittelbar und ungekünstelt entfaltet sich das Drama eines heranwachsenden Jungen, der schnellstmöglich als Erwachsener angesehen werden will, sich aber der Verantwortung und der harten Entscheidungen, die auf ihn zukommen werden, nicht bewusst ist. Es ist, als sollten die ständig wummernden Pop-Beats, die Pio auf seinem steinigen Weg begleiten, die Aussichtslosigkeit einfach hinweg dröhnen.

    In den Wohnblocks der Roma wird mit drei Jahren bereits mit dem Rauchen begonnen und ab sechs kann man Autofahren. Alkohol gehört sehr früh einfach zum Leben dazu und auch Machoallüren, gegenseitige Gewaltandrohungen und Flüche sind alltäglich in der Amato-Sippschaft. Man bleibt unter sich, alle umliegenden Häuser und Baracken werden von Romafamilien bewohnt, die seit mehreren Generationen ohne Perspektive in Italien hausen. Vorurteile und Fremdenhass sind in diesem Milieu tief verankert, vor allem die ebenso ausgegrenzten afrikanischen Flüchtlinge werden nicht etwa als Leidensgenossen begriffen, sondern als fauler Abschaum diskriminiert. Dass Pio trotz der Vorbehalte seiner Familie eine Vertrauensbeziehung zu Ayiva aufbauen kann, ist bei diesen Voraussetzungen schon ein hoffnungsvolles Zeichen. Für den 14-Jährigen gehören die Flüchtlinge zur italienischen Realität einfach dazu, sodass es ihm leichter fällt, die Grenzen zwischen den sich voneinander abschottenden Gruppierungen zu überwinden. Aber auch er ist machtlos gegen die strikte Hackordnung der Kriminalität, in der die kalabrische Mafia mit Drogen, Prostitution und Korruption das große Geld verdient, während für die Roma nur Einbrüche, Autodiebstähle und Kleinkram bleiben.

    Während die schwarzen Limousinen der Mafiosi wenigstens noch neue Aufträge für ihre Roma-Handlanger verheißen, bringen die Ordnungshüter der Polizei nur Unheil ins Viertel. Wenn die Carabinieri bei den Roma vorfahren, wo viele weder lesen noch schreiben können, treffen die rücksichtslosen Repräsentanten eines verständnislosen Staates auf eine Mauer der Feindseligkeit. Der einzige filmische Ausbruch aus der deprimierenden Realität sind Bilder eines majestätischen Pferds als Zeichen der früheren Freiheit der umherziehenden Sinti und Roma. Dabei steht das Pferd in Pios Träumen für eine verklärte Vergangenheit, eine in das Reich der Mythen und Träume entrückte Gegenwelt, die er nur aus den Erzählungen seines Großvaters kennt. Doch ein Ausbruch aus dem Teufelskreis, in dem sich die Familie befindet, erscheint nahezu unmöglich. Dies wird in einer zentralen Szene deutlich, in der Pio seiner Mutter erstmals selbst erbeutetes Geld übergeben will, diese kurz zögert und dann doch resigniert nach den Scheinen greift: In diesem Moment wird ihr bewusst, dass sie nun auch ihr jüngstes Kind an den Kreislauf des Verbrechens verloren hat.

    Fazit: Jonas Carpignano gibt in seinem sozialrealistischen Drama „Pio“ einen tiefen Einblick in die Parallelgesellschaft der Roma in Italien und erzählt mit tiefer Sympathie vom Erwachsenwerden seines 14-jährigen Protagonisten.

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