Tanz in die Freiheit
Von Karin JirsakEs sind solche Biografien, aus denen Künstlerlegenden entstehen: Im März 1938 kommt Rudolf Nurejew in der Transsibirischen Eisenbahn zur Welt. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, avancierte er in den 1960er Jahren zu einem der bedeutendsten und innovativsten Balletttänzer der Welt. Damit es dazu kommen konnte, musste Nurejew allerdings nicht nur hart trainieren, sondern sich zunächst auch aus den restriktiven Fängen des sowjetischen Systems befreien. Das gelang dem werdenden „Popstar des Balletts“ im Juni 1961 mit einem spektakulären Befreiungsakt, der Nurejew auch weit über die Grenzen der Ballettwelt hinaus berühmt machte.
Auf diesen historischen Moment am Flughafen Le Bourget nahe Paris steuert Ralph Fiennes in seinem – nach der Charles-Dickens-Biografie „The Invisible Woman“ – bereits zweiten Biopic als Regisseur in schwelgerischen 16mm-Bildern konsequent zu. In den mehr als zwei Stunden Spielzeit von „Nurejew – The White Crow“ lässt der Voldemort-Darsteller keinen Zweifel daran, was für ihn das eigentliche Thema seines Films ist: Nämlich nicht etwa das Ballett, sondern nichts weniger als die (westliche) Freiheit, „La Liberté“, die uns und dem jungen Nurejew als Signalwort schon in den ersten Szenen fast plakativ von Pariser Statuen und Straßenschildern entgegenleuchtet.
Nurejew ist sich sicher, dass er das Zeug zum Weltstar hat.
Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges kommt der junge Tänzer Rudolf „Rudi“ Nurejew (Oleg Ivenko) mit dem berühmten Leningrader Kirow-Ballett erstmals nach Paris. Fasziniert und berauscht von der westlichen Kultur und Lebensart ist Rudi umso fester entschlossen, ein freies Leben zu führen – und sein Talent fortan der ganzen Welt zu präsentieren. In dem französischen Tänzer Pierre Lacotte (Raphaël Personnaz) und der Chilenin Clara Saint (Adèle Exarchopoulos) findet er neue Freunde. Gemeinsam streifen sie durch die Museen und Nachtclubs der Stadt. Dabei werden sie auf Schritt und Tritt vom KGB überwacht, der fürchtet, Nurejew könne in den Westen überlaufen. Die Situation eskaliert am 16. Juni 1961, als der russische Geheimdienst am Flughafen Le Bourget versucht, Nurejew zur Rückkehr nach Moskau zu zwingen …
Bis zum fulminanten Showdown, der wie das Finale eines Thrillers daherkommt, nimmt sich Ralph Fiennes viel Zeit und Ruhe, um in cremigen, körnigen Bildern den Pariser Sixties-Spirit einzufangen und die exzentrische Tänzerlegende in all ihren Facetten zu porträtieren. Aber das stört gar nicht, denn mit einem derart impulsiven Charakter wie Nurejew wird es eben auch nie langweilig. Die charismatische Besetzung tut ihr Übriges: Mit dem ukrainischen Ballettstar Oleg Ivenko, der hier in seiner ersten Filmrolle zu sehen ist, hat Fiennes einen Darsteller gefunden, der einen nicht nur mit seiner tänzerischen Virtuosität, sondern vor allem mit seinem mimischen Ausdruck in den Bann zieht. In seinen ebenso starken wie sinnlichen Gesichtszügen findet die Persönlichkeit Nurejews die perfekte Projektionsfläche, und Ivenkos Blick versprüht eine ungezähmte Kraft, die von der ersten Minute an fesselt – ob wir den Ausnahmetänzer nun an der russischen Kaffeetafel sitzen oder über die Pariser Bühnen wirbeln sehen.
Dazu kommt der lakonische Humor, mit dem Ivenko seine Rolle ausfüllt: Auf einem Bankett nach einer Aufführung wird der damals noch unbekannte Tänzer etwa gefragt, ob er an jenem Abend auch in dem Stück getanzt habe. „Hätte ich getanzt, würden Sie sich erinnern“, lautet die trocken-barsche Antwort: Vorgetragen nicht mit der Arroganz des selbstverliebten Angebers, sondern mit dem beinahe kindlich-naiven Wissen, dass er mit dieser Aussage nun mal recht hat. Als ruhender Gegenpol zu diesem überschäumenden Selbstbewusstsein fungiert Adèle Exarchopoulos („Blau ist eine warme Farbe“), die als Clara Saint neben der bedingungslosen Zuneigung zu ihrem nicht immer einfachen Freund auch etwas Geheimnisvolles ausstrahlt. Wie schon in seinen ersten beiden Regiearbeiten „Coriolanus“ (2011) und „The Invisible Woman“ (2013) übernimmt Ralph Fiennes auch diesmal wieder selbst eine Rolle: Um den legendären Ballettmeister Alexander Puschkin darzustellen, hat der schon zweifach oscarnominierte Brite seine Russischkenntnisse aufpoliert und spielt mit fast schon unterwürfiger Zurückhaltung und väterlicher Milde gegenüber seinem rebellischen Schützling sozusagen die Antithese zum Klischee des gestrengen Ballettlehrers.
Auch inszenatorisch entdeckt man hier wenig von dem, was man sonst aus Ballettfilmen gewöhnt ist: Der physische und psychische Drill, die dadurch geschundenen Körper und Seelen, der unerbittliche Konkurrenzkampf – diese Aspekte werden in „Nurejew“ kaum thematisiert. Auch den üblichen Biopic-Konventionen entzieht sich der Film weitgehend: Das Drehbuch von David Hare („The Hours“, „Der Vorleser“) basiert auf dem Roman „Rudolf Nureyev: The Life“ von Julie Kavanagh, klammert allerdings den Rausch des großen Ruhms und den anschließenden tiefen Fall (den der im Alter von 54 Jahren an Aids verstorbene Rudi gleichwohl erlebte) selbstbewusst aus. Statt auf diese klassischen Konstituenten der gemeinen Künstlerbiografie konzentriert sich der Film ganz auf die frühen Jahre, in denen sich der kometenhafte Aufstieg des jungen Mannes aus Ufa, der Hauptstadt der russischen Republik Baschkortostan, gerade erst abzuzeichnen begann.
Ralph Fiennes spielt gegen das Klischee vom strengen Sowjet-Mentor an.
Statt Nurejews Geschichte als eine Kette dramatischer Momente zu arrangieren, stellt Fiennes den Fokus – mit empathischem Blick – ganz auf die Geradlinigkeit des Porträtierten ein. Ob die Knöchelverletzung, die Nurejew beinahe zwei Jahre seiner Karriere gekostet hätte, eine Affäre mit der Frau seines Lehrmeisters oder die permanente Überwachung durch den KGB – ein streng zielorientiertes Wesen wie Nurejews tangiert das alles nur am Rande, und so konsequenterweise auch Fiennes in der Konstruktion seiner Erzählung. Auch die Bisexualität Nurejews wird nicht problematisiert, sondern ganz unaufgeregt nebenbei erzählt, als selbstverständlicher Teil eines individuellen Freiheitskonzepts. Das beinhaltet eben nicht nur, es trotz der Steine, die ihm sein Herkunftsland in den Weg legt, an die Spitze der internationalen Ballettwelt zu schaffen, sondern auch und vor allem die Freiheit, sein (Privat-)Leben so zu leben, wie er es für richtig hält.
Von Anfang an wird Nurejew als eine Urgewalt der Kompromisslosigkeit gezeigt, als junger Mann, der weiß, was er will und sich von nichts und niemandem aufhalten lässt. Eine Kompromisslosigkeit, die sich auch im Zwischenmenschlichen zeigt, selbst wenn das im Film nur eine untergeordnete Rolle spielt: „Du bist der egoistischste Mensch, den ich kenne“, stellt die sonst so geduldige Clara Saint fest, nachdem Rudi bei einem Besuch im russischen Restaurant ausfallend geworden ist. „Wenn du Entschuldigungen erwartest, bist du mit dem falschen Mann zusammen“, entgegnet dieser lapidar. Man könnte das unsympathisch finden, aber Fiennes geht – genau wie Clara Saint – sehr nachsichtig mit den Eskapaden seines Protagonisten um. Vor allem mittels Rückblenden, in denen er Nurejews Kindheit in Armut und ohne die Liebe des Vaters zeigt, weckt er Verständnis für die manchmal auch rücksichtslose Hartnäckigkeit, mit der Rudi sein großes Ziel verfolgt, sein früheres Leben endgültig hinter sich zu lassen.
Schließlich war es ja auch genau dieser Habitus, dank dem es Rudolf Nurejew letztendlich gelang, einem System zu entfliehen, an dem vor und nach ihm viele andere künstlerische Existenzen zerbrachen. Eine Erkenntnis, auf die Fiennes' Film 127 Minuten lang hinarbeitet und an der er spätestens am Ende keinen Zweifel mehr lässt.
Fazit: Mit seiner dritten Regiearbeit gelingt Ralph Fiennes das faszinierende Porträt eines Ausnahmekünstlers und zugleich eine mit viel Sixties-Zeitkolorit angereicherte Ode an das Ideal der (westlichen) Freiheit.