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    Styx
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Styx
    Von Carsten Baumgardt

    Die sogenannte Flüchtlingskrise ist seit 2015 eines der zentralen medialen Themen überhaupt. Die Diskussion darum, wie man mit den Menschen, die aus Krisengebieten nach Europa strömen, umgehen sollte, erhitzt die Gemüter dabei so sehr, dass nicht selten jegliche Rationalität verloren geht. Genau diese lässt dagegen Regisseur Wolfgang Fischer in seinem sehenswerten Ozean-Drama „Styx“, das in der Sektion Panorama bei der Berlinale 2018 seine Weltpremiere feiert, zu ihrem Recht kommen. Er nähert sich dem emotional aufgeladenen Thema Bootsflüchtlinge mit einer fast schon dokumentarisch anmutenden Nüchternheit – ehe er am Ende doch auch auf Gefühle setzt.

    Die Notärztin Rike (Susanne Wolff) nimmt sich eine Auszeit von ihrem stressigen Job in Köln und bricht zu einem Segeltörn zur Atlantikinsel Ascension auf, einem kleinen Paradies fast genau in der Mitte zwischen Afrika und Südamerika. In Gibraltar startet ihr Solotrip mit ihrem zwölf Meter langen Motorsegler Asa Gray zunächst trotz des bereits herbstlichen Wetters reibungslos. Aber nach einem schweren Sturm vor der afrikanischen Küste trifft sie auf ein manövrierunfähiges Fischerboot, das völlig überladen mit Dutzenden von Flüchtlingen hilflos in der See treibt. Rike hält Abstand, um nicht von den verzweifelten Menschen mit in den Tod gerissen zu werden. Doch ihre Hilferufe Richtung Küstenwache verhallen zunächst ohne großes Echo, auch Großschiffe in Funkweite reagieren nicht. Zehn lange Stunden passiert nichts, während die Passagiere des Fischkutters sterben. Deshalb entschließt sich Rike, zumindest einen Ertrinkenden auf ihrem Boot aufzunehmen, den etwa 14-jährigen Kingsley (Gedion Oduor Wekesa).

    Es gibt viele Möglichkeiten, sich der Flüchtlingsproblematik filmisch zu nähern. Der Italiener Gianfranco Rosi etwa kontrastierte 2016 in seinem Dokumentarfilm „Seefeuer“ das ruhige Alltagsleben auf der Insel Lampedusa mit dramatischen Szenen ankommender Hilfesuchender aus Afrika und bekam dafür den Goldenen Bären der Berlinale. Der Österreicher Wolfgang Fischer wählt nun eine fiktive Variante, die auf den ersten Blick extrem nüchtern und kalkuliert erscheint, indem er uns eine mustergültige Protagonistin präsentiert, die exemplarisch für positive (westliche) Werte steht: moralisch sattelfest, kultiviert, hochgebildet und weltoffen. Mit allergrößter, faszinierender Akribie schildert Fischer über mehr als die Hälfte des Films auf fast dokumentarische Weise die Routine an Bord der Asa Gray. Damit zeigt er uns beispielhaft, wie gut organisiert, gefestigt und souverän der Westen ist, was Hobbyseglerin Susanne Wolff („Das Fremde in mir“, „Die drei Musketiere“) sehr überzeugend verkörpert. Aus dieser Sicherheit heraus wird Rike in der filmischen Versuchsanordnung mit dem dramatischen Schicksal der Flüchtlinge konfrontiert: Ihre Existenz kracht förmlich in etwas hinein, das sie bisher nur theoretisch und aus weiter Ferne kannte.

    Immer noch wagen verzweifelte Menschen zu Tausenden die Flucht über das Meer Richtung Europa – egal, wie lebensgefährlich die Reise ist. Die dahinterstehenden oft herzzerreißenden Einzelschicksale erreichen den Durchschnittseuropäer kaum – nur noch im außergewöhnlichsten Fall kommt es überhaupt zu kurzen Meldungen in den Nachrichten, die uns aber in ihrer fast routinemäßig wirkenden Gleichförmigkeit nur selten persönlich berühren. Die Situation an den Grenzen unseres Kontinents scheint irgendwie trotzdem unendlich weit weg zu sein. Genau diese Perspektive nimmt Wolfgang Fischer in seinen Film auf – und macht die Sache persönlich. Er konfrontiert seine Protagonistin stellvertretend hautnah mit dem Elend und zwingt sie, eine Position zu beziehen. Diese Methode ist effektiv, denn es bringt schwierige und unangenehme Fragen ganz nah an den Zuschauer heran, auch wenn der Regisseur gegen Ende seine detailversessen beobachtende Erzählweise hinter sich lässt und zu einem emotionaleren Ansatz wechselt, der mit seinen etwas sprunghaft wirkenden Auslassungen nicht ganz überzeugt.

    Der studierte Psychologe Fischer macht deutlich, dass die Lage in der Praxis keineswegs so einfach ist, wie sie zunächst scheint. Denn mit Rikes Akt der Menschlichkeit, den schwer verletzten, im Wasser treibenden Kingsley an Bord zu hieven, beginnen die Probleme erst richtig, weil der Gerettete sich eben nicht dankbar in die Arme seiner Samariterin wirft, sondern durch seine von Emotionalität getriebenen aggressiven Handlungen schwierige moralische Fragen provoziert. Daneben klagt Fischer die Doppelmoral der angeblich so zivilisierten westlichen Welt an, indem er die (oft politisch erzwungene) Passivität der professionellen Retter genauso kritisiert wie er die Rücksichtslosigkeit von Konzernen (bei vielen Reedereien gibt es eine Firmenpolitik, für Flüchtlingsrettungen keine Fahrt zu unterbrechen) anprangert.

    Fazit: Selbst wenn die Idee zu Wolfgang Fischers Flüchtlingsdrama schon vor der großen Krise 2015 entstand, ist sein Ozean-Kammerspiel „Styx“ aktueller denn je - ein unbequemer Film, der sein Publikum zum Nachdenken zwingt.

    Wir haben „Styx“ auf der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film als Panorama Special gezeigt wird.

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