Black-Metal-Horror (auch für die FSK)
Von Oliver KubeAuch dank Netflix, wo längst nicht nur „Making A Murderer“ zum Hit-Format avancierte, haben True-Crime-Storys aktuell gerade wieder Hochkonjunktur. Es ist unfassbar, wie viele Bücher, Filme und TV-Serien erschienen oder aktuell noch in Arbeit sind, in denen es um reale Serienkiller wie Jack The Ripper, Ted Bundy oder die Manson-Family geht. Einen Teil der Faszination macht dabei sicher der Fakt aus, dass der Konsument sich nach dem Abspann oder der letzten Seite noch mittels eigener Nachforschungen weiter und ausführlicher mit dem Thema beschäftigen kann, als es bei einer rein fiktiven Story möglich wäre. Dies trifft speziell dann zu, wenn es sich bei Tätern oder Opfern um Individuen handelt, die bereits jenseits der porträtierten Verbrechen eine gewisse Bekanntheit erreicht haben – wie etwa O.J. Simpson oder Gianni Versace, die Titelfiguren der ersten beiden Staffeln von „American Crime Story“.
Mit „Lords Of Chaos“ legt Jonas Åkerlund nun einen besonders außergewöhnlichen und lohnenden Beitrag in diesem Genre nach. Mit Rory Culkin und Emory Cohen in den Hauptrollen wurde die schier unglaubliche, aber wahre Geschichte einer Handvoll junger Norweger verfilmt, die nicht nur eine musikalische Revolution anzettelten, sondern darüber hinaus für einige Jahre ein ganzes Land in Furcht und Schrecken versetzten, bevor einer ihrer beiden ebenso kreativen wie idealistischen Anführer den anderen auf grausamste Weise tötete. Der schwedische (Musikvideo-)Regisseur hat sein Werk als Mixtur aus Horror-Krimi, Künstler-Biopic und schwarzer Komödie angelegt. Das Ergebnis ist ein ebenso gut unterhaltender wie berührender und erschreckender Film.
1984 gründet der zu diesem Zeitpunkt 16-jährige Øystein Aarseth alias Euronymous (Rory Culkin) in Oslo die Black-Metal-Band Mayhem. Ziel des Teenagers ist es, härtere, brutalere und bösere (evil!) Musik zu machen als alles, was bis dahin im ohnehin schon extremen Metal-Genre zu hören war. Nach einer Weile hat der Gitarrist eine feste Besetzung und tatsächlich einige Fans um sich geschart. Alle zusammen leben in einem schäbigen Haus auf dem Lande, in dem sie proben und Partys feiern. Aus einer Mischung von jugendlicher Rebellion und echter Faszination, aber auch um ihre Musik zu promoten, spielt die Band zudem auf und neben der Bühne mit satanischen Ritualen. Ein Image, das tatsächlich dazu beträgt, dass Mayhem erste Erfolge einfahren können. Als ihr depressiver Sänger (Jack Kilmer) Selbstmord begeht, stößt der gleichermaßen talentierte wie undurchsichtige und unberechenbare Varg Vikernes (Emory Cohen) zur Gruppe. Zwischen ihm und Euronymous entbrennt schnell ein Machtkampf um die Führungsposition innerhalb ihrer längst einem religiösen Kult ähnelnden Clique, der einfach kein gutes Ende nehmen kann...
Jonas Åkerlund war aus verschiedenerlei Gründen für die Umsetzung dieses vielschichtigen sowie einmaligen Stoffes regelrecht prädestiniert: Zum einen qualifizierte ihn seine Erfahrung als Regisseur des Slacker-Klassikers „Spun – Leben im Rausch“ plus beinahe unzähliger Musikvideo-Clips für Superstars von Metallica und Rammstein bis hin zu Madonna oder Robbie Williams. Zum anderen spielte der Stockholmer 1983/84 Schlagzeug für die den Black Metal mitdefinierenden Genre-Denkmäler Bathory, die zu den Vorbildern von Euronymous & Co. zählten. Mayhems Werke gehören, neben denen von Burzum (Varg Vikernes Solo-Projekt), noch heute zu den wichtigsten und einflussreichsten auf dem ultraharten Metal-Sektor. Åkerlunds Szene-Hintergrund half ihm nicht nur dabei, die sehr spezielle Meta-Gemeinde glaubhaft in Szene zu setzen, sondern auch dabei, die verblieben Mitglieder von Mayhem für den Film mit ins Boot zu bekommen. Denn diese waren zunächst doch sehr skeptisch, als sie erfuhren, dass ein Film über die kontroverse Geschichte gedreht werden sollte und untersagten der Produktion deshalb erst einmal die Benutzung ihrer Musik.
Am Ende sind nun doch diverse Mayhem-Originale wie „Funeral Fog“, „Pagan Fears“ oder „Freezing Moon“ im Film zu hören. Außerdem standen die restliche Band sowie Familienangehörige der Toten den Filmemachern mit Auskünften und persönlichen Erinnerungen zur Seite. Selbst der zu Beginn noch mit sehr aggressiver, öffentlicher Ablehnung reagierende Mayhem-Bassist Jørn Stubberud alias Necrobutcher erklärte laut dem eine essenzielle Nebenrolle bekleidenden deutschen Schauspieler Wilson Gonzalez Ochsenknecht („Der Nachtmahr“) mittlerweile, dass er den fertigen Film „gar nicht schlecht“ finden würde. Lediglich mit dem 2009 aus dem Gefängnis entlassenen, aktuell in Frankreich ansässigen Varg Vikernes nahmen Åkerlund und das restliche Team aufgrund seiner immer wieder geäußerten, unverändert von Hass geprägten Weltanschauung bewusst keinen Kontakt auf. Als während des Drehs das Gerücht aufkam, Vikernes wäre in Norwegen und könnte eventuell am Set auftauchen, wurde kurzerhand an alternativen, geheim gehaltenen Orten weitergefilmt.
Vikernes wird von Emory Cohen („Brooklyn - Eine Liebe zwischen zwei Welten“) auf eindringliche, beängstigende Art gespielt. Jederzeit nimmt ihm der Zuschauer den eiskalten Soziopathen ab. Das beginnt schon bei der ersten Begegnung der beiden Protagonisten, als Varg der Gruppe nach einem Auftritt in einem Schnellimbiss über den Weg läuft und Euronymous sich über ihn lustig macht, ohne dass dieser das überhaupt realisiert. Rory Culkins („Signs“) Figur wird hingegen, trotz seiner mehr als zweifelhaften Taten und Äußerungen, als Mensch mit Gefühlen gezeigt. Beispiele dafür sind die romantischen letzten Minuten mit seiner Freundin (Sky Ferreira, „Baby Driver“) oder – besonders berührend – Euronymous‘ Reaktion auf Alpträume um Ex-Sänger Dead, verkörpert von Val Kilmers Sohn Jack („The Nice Guys“). Zwischen den Zeilen wird immer wieder klar, dass Euronymous als nicht wirklich böse empfunden werden kann – auf naive Weise unbedacht, rücksichtslos, selbstverliebt und sogar gefährlich, aber nicht so abgrundtief schlecht wie der sich offen als Rassist, Faschist und Menschenfeind präsentierende Varg. Ob man sich dieser Sichtweise nach Abwägung der realen Fakten tatsächlich anschließt, ist dem Zuschauer selbst überlassen. Auf wessen Seite Åkerlunds Sympathien liegen, ist allerdings offensichtlich. Und das ist auch okay so, schließlich lässt er seinen Film ja auch mit dem Hinweis beginnen, dass dieser auf „der Wahrheit, den Lügen und dem, was tatsächlich passierte“ basieren würde.
Im Rahmen der Fantasy Filmfest White Nights 2019 wurde übrigens noch die Uncut-Version von „Lords Of Chaos“ gezeigt, in der es sehr heftig und grausam zur Sache geht. Damit der Film von der FSK zur regulären Veröffentlichung im Kino oder für die DVD-/Blu-ray-Verwertung überhaupt freigegeben werden kann, dürften nahezu garantiert diverse, besonders blutig sowie ausführlich und erschütternd realistisch dargestellte Sequenzen der Schere zum Opfer fallen. Nahaufnahmen von aufgeschnittenen Pulsadern (bei Selbstverletzungen reagiert die FSK oft besonders harsch, weil die Gefahr der Nachahmung viel höher ist) sind da längst nur die Spitze des Eisbergs. Auch die detailliert und ausführlich dargestellten Brandstiftungen in christlichen Kirchen, welche von den Bandmitgliedern begangen wurden, dürfen den Jugendschützern bestimmt Bauchschmerzen bereiten.
Wer die Nerven und den Magen für derlei explizite Bilder hat, sollte allerdings versuchen, diese ungeschnittene Fassung zu sehen. Denn Åkerlund behält sogar in den extremsten Momenten immer die realen Ereignisse und damit die Glaubwürdigkeit seines Films im Auge. Visuell wirken viele Szenen fast dokumentarisch, da der Regisseur die Kamera immer wieder sehr effektiv einfach nur direkt draufhalten lässt – selbst bei einem halb weggeschossenen Kopf und sich über dem Teppich verteilender Gehirnmasse. Nur bei Euronymous‘ Alpträumen bewegt sich Åkerlund jenseits dieser selbstgewählten Konvention und spielt verfremdend mit Perspektiven, Farben und Zeitlupeneffekten. Dazu konnte der Schwede bei der Abbildung eines Live-Auftrittes offenbar nicht aus der Haut eines erfahrenen Konzertfilmers. Die einige Minuten andauernde Inszenierung einer der legendären, ebenfalls nicht gerade unblutigen Mayhem-Shows entspricht optisch einem professionellen Musikvideo aus den 90ern. Ansonsten kommt jedoch nichts gestellt oder aufwändig ins Bild gesetzt daher. Der Zuschauer spürt keine Distanz, sondern fühlt sich, als wäre er direkt dabei.
Bei so viel exzessiver Gewalt eine gewisse Portion Humor unterzubringen, ist nicht einfach. Doch Åkerlund findet die richtige Balance und das perfekte, komödiantische Timing. Immer wieder lässt er das Publikum so inmitten all des Wahnsinns realisieren, dass diese Typen eigentlich noch Jugendliche waren. Und Kids stellen einfach dumme Dinge an. Wenn sich der als sinisteres Mastermind hinter den Kirchenbränden inszenierende Varg gegenüber einem Journalisten auf dusseligste Weise um Kopf und Kragen redet, ist das genauso lachhaft, wie seine kriminellen Taten und die zur ihrer Rechtfertigung von ihm auf unbeholfene Weise vertretenen Ideologien traurig und beängstigend sind. So wird geschickt ein emotionales Gegengewicht geschaffen, das den Film nicht nur erträglich, sondern sogar erstaunlich unterhaltsam macht.
Speziell in diesen eher leichten Szenen (Ochsenknecht hat zwei wunderbar witzige Momente, die wir hier lieber nicht spoilern wollen) wird klar, welch Herzensangelegenheit die ganze Unternehmung für seinen Macher gewesen sein muss. Nicht ohne Grund begann Åkerlund bereits 1996 damit, sich Gedanken über eine eventuelle Verfilmung der Geschehnisse zu machen. Erst gut zehn Jahre später sollten der „Lords Of Chaos“ seinen Titel gebende, im Abspann als Inspiration genannte Sachbuch-Bestseller zweier Journalisten und die sehenswerte Doku „Until The Light Takes Us“ erscheinen. Die lange Zeit bis zu seiner Realisierung hat dem Film aber offensichtlich gutgetan. Denn „Lords of Chaos“ ist Åkerlunds bisher radikalstes, zudem aber auch sein bestes, weil reifstes Kinowerk. Ein Film, den nicht nur abgebrühte Horror- oder Metal-Fans genießen können und sollten, sondern jeder, der sich für die gelegentlich absurd wirkenden, abscheulichen Abgründe der menschlichen Psyche interessiert.
Fazit: Was für ein Wahnsinn. Regisseur Jonas Åkerlund präsentiert eine faszinierend rohe, authentisch brutale und dabei auch noch immens unterhaltsame True-Crime-Story über die Erfinder des True-Norwegian-Black-Metal.
Wir haben „Lords Of Chaos“ im Rahmen der Fantasy Filmfest White Nights gesehen, wo der Film seine Deutschlandpremiere gefeiert hat.