Neben den unzähligen Inszenierungen der Dramen von William Shakespeare in Theater und Film gibt es auch zahlreiche literarische Neu- und Weiterdichtungen der Stoffe des Barden, etwa Gottfried Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe", Edward Bonds „Lear“, Tom Stoppards „Rosenkrantz und Güldenstern sind tot“ oder jene russische Novelle „Die Lady Macbeth aus dem Landkreis Mzensk“ (1865), in der Nikolaj Leskow einen echten Kriminalfall nacherzählt und von der sich der britische Theaterregisseur William Oldroyd nun zu seiner filmischen Mordintrige „Lady Macbeth“ inspirieren ließ. Die Geschichte ist wie bei Leskow Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelt, aber hier in England. Auf die Hexen, Prophezeiungen und Königshäuser des Shakespeare-Stoffs verzichten die Filmemacher. Sie konzentrieren sich in ihrem herausragenden Drama ganz darauf, wie aus einer „besseren Hälfte“ eine mordlüsterne Intrigantin und Aufrührerin wird.
1856, im englischen Hochmoor irgendwo in der Nähe Londons: Die knapp über 20-jährige Katherine (Florence Pugh, „The Falling“) heiratet den ein Vierteljahrhundert älteren Alexander (Paul Hilton, „Wuthering Heights“), vorrangig um dem Wunsch ihres Schwiegervaters, des grantigen Minenbesitzer Boris (Christopher Fairbank), entsprechend für einen Erben zu sorgen. Doch Alexander vollzieht die Ehe nicht, missbraucht seine junge Frau allenfalls zur Stimulation seiner Selbstbefriedigung („Zieh das Kleid aus! Stell dich an die Wand! Schau mich nicht an!“). Und den Rest des Tages soll Katherine das Haus nicht verlassen, höchstens mal bei Besuch zur Repräsentation bei Tisch sitzen. Durch die Langeweile und fehlende frische Luft ist Katherine fast zwangsläufig ständig müde, aber das empfindet der Hausherr als ungehörig und kommandiert die schwarze Dienerin Anna (Naomi Ackie, „Doctor Who“) dazu ab, seiner unglücklichen Gattin die Schläfrigkeit auf fast schon folterähnliche Weise „abzugewöhnen“ Doch dann ist Alexander für längere Zeit aus dem Haus und zwischen Katherine und dem Stallburschen Sebastian (Cosmo Jarvis) kommt es zu einer Affäre, die eine Mordserie in Shakespeare-Ausmaßen initiiert.
Eine Schlüsselszene des Films beginnt mit einem Hilferuf: Die nur in ein Laken gewickelte Anna wird von einigen weißen Arbeitern belästigt, die „die Sau wiegen“ wollen. Die Gefahr einer Massenvergewaltigung liegt in der Luft, als Katherine resolut einschreitet und im Befehlston fast exakt dieselben Sätze benutzt, mit denen ihr Gatte sie im Schlafzimmer demütigte. Als Anna schon traumatisiert das Weite gesucht hat, begeht Katherine dann aber den Fehler, den rebellischen Sebastian zu fragen, was sie selbst wohl gewogen hätte. Worauf es zu einem Handgemenge kommt, bei dem sie den Angreifer noch von sich weisen kann. Doch die Leidenschaft zwischen Sebastian und der vom umgedrehten Kräftemessen erotisierten Katherine ist entfacht.
Während der Abwesenheit des Gatten verschiebt sich das soziale Gefüge im Haus ganz entscheidend. Die freiheitsliebende Katherine entwächst ihrem Joch und behandelt den Stallburschen, der seine „Dienste“ nur noch im Schlafzimmer verrichtet, alsbald wie den Nachfolger Alexanders. Schnell entwickelt sie einen unstillbaren Machthunger, der immer größere Opfer fordert. Eine der Betroffenen ist die zweite zentrale Frauenfigur des Films: Anna wird Zeugin eines ersten Mordes und muss in der Folge hilflos mitansehen, wie Katherine sich immer extremer verhält. Die Dienerin zerbricht schließlich an dieser Situation und verliert gar die Fähigkeit zu sprechen.
Die großartig nuancierten Darbietungen der beiden theatererprobten Hauptdarstellerinnen sind das dramatische Herzstück des Films, der zudem durch seine ebenso karge wie sorgfältige Inszenierung besticht, die nach einer minutiösen (aber hochspannenden) Beschreibung von Katherines langweiligem Leben als „Vogel im Käfig“ bei der allmählichen Wandlung der Titelfigur einen immensen Drive entwickelt. Nicht nur wenn sich Katherine dabei teilweise überraschende Wendungen in den Weg stellen, wird zudem der herausragende Beitrag von Drehbuchautorin Alice Birch offenbar, die aus der Vorlage ein Werk über Rassen-, Klassen- und Geschlechterkämpfe machte. Nahezu alle wirklich bemerkenswerten Szenen des Films (die Vorgänge im ehelichen Schlafzimmer, Boris' Todeskampf und die Reaktionen der beiden Frauen darauf, die Gewissensfrage an den pittoresken Stromschnellen) gibt es in der Novelle entweder gar nicht oder nur in einer harmloseren Variante. Bei Leskow wird etwa eine burschikose - und natürlich weiße - Köchin als Streich gewogen, die nur wenige Augenblicke nach ihrer Befreiung bereits wieder bester Laune ist.
Birch nutzt die Vorlage nur als Ausgangspunkt und interessiert sich beispielsweise für den „Kriminalfall“ kaum. Wie Katherines patriarchale Unterdrücker von ihren Seitensprüngen erfahren, wird im Buch exakt erklärt, im Film geht es um andere Dinge. Wie der Regisseur erklärt, hat man alles, was vom „Unabhängigkeitskampf“ Katherines ablenken könnte, systematisch in den Hintergrund geschoben. Und auch mit literarischen Konventionen vergangener Zeiten, wo Frauen „stillschweigend leiden, Selbstmord begehen oder anders verschwinden“, wird hier resolut aufgeräumt, wodurch eine der faszinierendsten literarischen Frauenfiguren aller Zeiten (nämlich eben Lady Macbeth) hier eine zumindest im Ansatz verständliche psychologische „Vorgeschichte“ und Unterfütterung erhält. Nur, dass sie dem unzuverlässigen Stallburschen fast hörig ist, schwächt den feministischen Ansatz etwas, aber die starke Liebe zum wankelmütigen Schwächling ist bei Shakespeare (und Leskow) eben ein zentrales Element und es ist ja nicht zuletzt die irrationale Leidenschaft, die das Drama so menschlich macht.
Fazit: Aus einer eingeschüchterten jungen Frau wird eine kaltblütige Mörderin: In dieser stilsicheren, modernen und überaus spannenden neuen „Lady Macbeth“ schlägt Newcomerin Florence Pugh den Zuschauer von der ersten Szene an in ihren Bann.