Die Werbung und die Medien machen es schon jungen Mädchen vor, in einer Sendung wie „Germany’s Next Topmodel“ wird es gar zum Programm: Erfolg hat, wer gut aussieht. Und gut aussehen kann nur, wer schlank ist. Das allseits propagierte Idealbild einer attraktiven Frau erzeugt Druck und geht auf Kosten des Wohlbefindens, nach aktuellen Zahlen hassen 91 Prozent aller Frauen weltweit ihren Körper. In einer einprägsamen Szene in Taryn Brumfitts Dokumentation „Embrace“ begeben sich die Reporter in Einkaufsstraßen rund um den Erdball und bitten die Frauen vor Ort um ein Statement zu ihrem Körper. Von Zufriedenheit ist da keine Spur. Stattdessen hört man Attribute wie „zu fett“, „zu klein“ und immer wieder „nicht perfekt“. Die Australierin Brumfitt kann ein Lied davon singen, wie viel Platz das Thema Body Shaming im Leben einer modernen Frau einnehmen kann. Um nach der Geburt ihres dritten Kindes möglichst schnell ihre alte Figur wiederzuerlangen, trainierte sie täglich mehrere Stunden – und verpasste es dadurch, wertvolle Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, die ihr im Grunde viel wichtiger gewesen wäre. Als der erfolgreichen Fotografin dies klar wurde, setzte sie mit einem aufsehenerregenden Vorher-Nachher-Bild auf Instagram ein erstes Statement, dem sie nun diesen leidenschaftlichen Dokumentarfilm folgen lässt: In einer Welt, in der die magere Size-Zero-Frau idealisiert wird, möchte sie ihre Geschlechtsgenossinnen dazu animieren, ihren Körper so zu lieben, wie er ist.
Auf dem besagten Doppel-Foto zeigte sich die dreifache Mutter Taryn Brumfitt 2013 zum einen als durchtrainierte, jedoch alles andere als glückliche Bodybuilderin und zum anderen mit stattlichem After-Baby-Körper samt „Problemzonen“ und weiblichen Rundungen. Bereits wenige Stunden nach der Veröffentlichung ging das Bild viral, über 100 Millionen Mal wurde es kommentiert, mit „Likes“ versehen oder weiterverbreitet. Frauen aus aller Welt bedankten sich bei Brumfitt dafür, dass sie das Thema Body Shaming in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt hat, woraufhin die Fotografin beschloss, sich weiter für ein gesundes Körpergefühl einzusetzen und einen Dokumentarfilm zum Thema zu drehen. Zu diesem Zweck ging sie auf Reisen und unterhielt sich mit sehr unterschiedlichen Frauen, darunter die deutsche Schauspielerin Nora Tschirner („Keinohrhasen“), über die Schönheit - darüber, was sie darunter verstehen und was sie ihnen bedeutet.
Mit zehn Gesprächspartnerinnen hat sich Taryn Brumfitt intensiver befasst und kreiert mit ihrer Hilfe ein abwechslungsreiches Kaleidoskop weiblicher Erfahrungen und (Selbst-)Wahrnehmungen. Mit der amerikanischen Schauspielerin und Moderatorin Ricki Lake („The Ricki Lake Show“) etwa spricht sie darüber, wie gehässig und wie selbstverständlich in den Medien über ihre Gewichtsschwankungen berichtet wurde. Die Autorin und Sportlerin Turia Pitt, die bei einem Buschfeuer schwerste Verbrennungen erlitten hat, lässt Brumfitt an ihrer Erfahrung teilhaben, wie es ist, von jetzt auf gleich als „hässlich“ wahrgenommen zu werden. Und mit Nora Tschirner, die an „Embrace“ auch als Koproduzentin beteiligt ist, tauscht sich die Regisseurin darüber aus, was für einen Stellenwert Schönheit einnimmt, wenn man permanent im Rampenlicht steht. Außerdem trifft Brumfitt Magersüchtige, professionelle Modefotografen und – eines der rührendsten Schicksale – ein Model, dessen Gesicht nach einem Gehirntumor zur Hälfte gelähmt war: Für eine Frau, die ihr Geld mit ihrem Aussehen verdient, ist das ein besonders erschütternder Schicksalsschlag. Doch so unterschiedlich die behutsam erzählten Geschichten der einzelnen Frauen auch sein mögen, sie alle eint eine Erkenntnis: Wenn es im Leben hart auf hart kommt, ist optische Perfektion selten das, woran man sich festklammert.
Die Filmemacherin behauptet keineswegs, dass Aussehen vollkommen irrelevant wäre. Stattdessen geht es Taryn Brumfitt und ihrem Team darum, diesem Aspekt seinen irrational hohen Stellenwert zu nehmen und nicht den schönen Schein, sondern lieber die innere Zufriedenheit an die erste Stelle zu rücken. Unterstrichen wird das vor allem durch das Beispiel der Regisseurin selbst: Brumfitt macht regelmäßig Sport, ist fit und läuft Marathons, weil dies zu ihrem eigenen Wohlbefinden beiträgt. Eine Size Zero braucht sie dafür aber nicht. Ergänzt werden die einzelnen Porträts mit einem kritischen Blick auf die sexualisierten und auf Perfektion getrimmten Frauenbilder in Medien und Werbung. Zum allumfassenden Schönheitswahn gesellt sich da noch ein ungesundes Streben nach ewiger Jugend. Manches wird dabei in „Embrace“ nur angerissen – etwa wenn es um Werbeanzeigen geht, in denen schon kleine Mädchen in High-Heels und tief dekolletierte Kleider gesteckt werden, um die Fantasie der Kunden zu beflügeln. Hier hätte Brumfitt durchaus noch tiefer in die Materie eintauchen können, aber auch so liefert „Embrace“ jede Menge Diskussionsstoff und Anregungen.
Fazit: Der Dokumentarfilm „Embrace“ ist ein engagiertes Plädoyer gegen den Schlankheits- und Jugendwahn der Gesellschaft und für die Vielfalt weiblicher Schönheit.