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    Einsamkeit und Sex und Mitleid
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Einsamkeit und Sex und Mitleid
    Von Thomas Vorwerk

    Der außergewöhnliche Titel „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ wirkt wie eine deprimierende zwischenmenschliche Rechenaufgabe und erinnert vom Versmaß auffällig an die deutsche Nationalhymne. Und es geht dann auch tatsächlich um nicht weniger als die Lage der Nation in dieser Verfilmung des gleichnamigen Romans von „Der große Bagarozy“-Autor Helmut Krausser. Regisseur Lars Montag, der bisher vor allem als Experte für Fernsehkrimis aufgefallen ist, setzt die Vorlage als schwarzhumorige und unerschrockene Komödie um. In etlichen Episödchen präsentiert er ein Dutzend Stellvertreter für das moderne Deutschland, die in teilweise wunderbar abstrusen Kombinationen miteinander interagieren. Dabei schürt die Angst vor der Einsamkeit stets das Verlangen nach Sex – und als Zuschauer könnte man manchmal sogar Mitleid empfinden, wenn man sich nicht andauernd selbst in den Figuren wiedererkennen würde.

    Der ehemalige Lehrer Ekki (Bernhard Schütz) streitet sich wegen eines aus dem Sortiment genommenen Produkts mit Supermarktleiter Uwe (Peter Schneider), der übers Internet die Künstlerin Janine (Katja Bürkle) kennenlernt, die wiederum den Familienvater und Hobby-Imker Robert (Rainer Bock) porträtiert. Uwes Frau Julia (Eva Löbau, „Der Wald vor lauter Bäumen“) hält sich indes an die käufliche Liebe, aber ihr Callboy Vincent (Eugen Bauder) hat sich gemeinsam mit seiner Freundin ganz konkrete Grenzen für seine Tätigkeit gesteckt. Vincent wohnt übrigens im selben Stock wie Lehrer Ekki, der nebenbei einen Anger Room betreibt, in dem unter anderem auch Robert seinen Frust an zum Zerstören freigegebenen Möbeln auslässt. Die Verbindung zwischen Robert und Ekki bleibt am längsten im Dunkeln, erweist sich dann aber auch als die dramatischste…

    Zum brillant besetzten Ensemble des Films gehört auch Jan Henrik Stahlberg („Muxmäuschenstill“), der liebenswerteste Unsympath des deutschen Kinos, der hier als Polizist Thomas bevorzugt Migranten anpöbelt (zu einem im Zug spielenden Kind sagt er: „Hör mir mal zu, du kleiner Bimbo…“) und keine Chance auslässt, um seiner Kollegin Carla (Friederike Kempter) mit wenig erfolgsversprechenden Taktiken näherzukommen. Und um bloß nicht das Gefühl aufzukommen zu lassen, dass vielleicht die Jugend weniger verkorkst sein könnte als dieses Potpourri grenzwertiger erwachsener Neurotiker, gibt es mit den neugierigen Teenagern Swentja (Lilly Wiedemann), Mahmud (Hussein Eliraqui) und Johannes (Aaron Hilmer) ein weiteres hochexplosives Dreieck der nächsten Generation. Lediglich deren noch jüngeren Geschwister scheinen für eine gewisse Unschuld und unerwartete Weisheit zu stehen, was schließlich nach einer Kindesentführung zu einer forcierten Dramatik führt, die der Film eigentlich gar nicht nötig gehabt hätte: Plötzlich geht es um Leben und Tod statt „nur“ um verlorene Jobs, Partner und Cowboystiefel, wobei das vorausgegangene zwischenmenschliche Miteinander mit all seinen Wagnissen und Missverständnissen für sich schon aufregend genug gewesen wäre.

    Während dieser in wenigen Inhaltssätzen nicht mal annähernd zu erfassende „bunte Strauß menschlicher Wurstabschnitte“ (so beschreibt es der Regisseur selbst) strukturell dem Aufbau von Robert Altmans „Short Cuts“ ähnelt, erinnert die post-postmoderne Inszenierung eher an die frühen Werke von Tom Tykwer (gleich der Auftakt mit in Zeitlupe zerschossenen Porzellankatzen verweist in gewisser Weise auf die Fußballszene aus „Lola rennt“, später tauchen dann vor allem Elemente auf, die an „Winterschläfer“ und „Die tödliche Maria“ gemahnen). Zudem ergänzen mehrere Erzählerstimmen die Handlung, die so wirken, als würden sie von einer höheren Instanz stammen, dabei aber immer mit einer feinen Prise satirischer Schärfe gewürzt sind. Dieses Stilmittel kennt man ähnlich aus der englischen Literaturgeschichte („Tristram Shandy“) und im Kino vor allem aus Stanley Kubricks „Barry Lyndon“.

    Sicherlich sind diese Vergleiche letztendlich ein klein wenig zu hoch gegriffen, trotzdem bleibt „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ eine universell zugängliche, extrem unterhaltsame, zu Diskussionen zwingende Satire, die vor allem auch durch ihren verwegenen Stilwillen einem repräsentativen Querschnitt durch unsere Gesellschaft erstaunlich nahe kommt: kitschige Porzellankätzchen, fundamentales Christentum, Peter-Maffay-Schlager, moderne Körperideale, zweckentfremdete Behindertenklos - dem scharfen Auge der Kamera scheint hier nichts fremd und gemeinsam mit dem mutigen Schauspielensemble wird hier der Humor auch in Situationen ausgelotet, wo man ihn nun wahrlich nicht erwartet hätte. Ein Branchenscreening im Zoo-Palast ist sicher nicht repräsentativ - aber Lars Montag hat es geschafft, mit der Umschreibung eines Terroranschlags einen ganzen Kinosaal in schallendes Gelächter ausbrechen zu lassen. Und das knappe drei Monate nach dem Weihnachtsmarkt-Anschlag am Breitscheidplatz in einem Kino, das nur 50 Meter vom Schreckensort entfernt liegt.

    Fazit: Selten war deutsches Arthauskino so nah am Puls der Gesellschaft – „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ ist eine saulustige Ensemble-Satire, die mit ihrem Hang zum Extremen, bissigen Ideen, verwegenen Stilmitteln und tollen (oft noch wenig bekannten) Darstellern überzeugt .

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