Zeitgemäßer kann ein Wettbewerbsbeitrag bei einem Filmfestival kaum sein. Aber Gianfranco Rosis Dokumentation „Seefeuer“, die bei der Berlinale 2016 ihre Weltpremiere erlebte, ist nicht nur wegen ihres aktuellen Flüchtlingsthemas relevant, sondern auch wegen ihrer künstlerischen Qualitäten. Der 2013 für „Das andere Rom - Sacro Gra“ mit dem Goldenen Löwen von Venedig ausgezeichnete italienische Regisseur ist nämlich ein Dokumentarist im besten Sinne des Wortes, die manipulative Polemik eines Michael Moore (der seinen „Where To Invade Next“ ebenfalls in Berlin präsentiert) liegt ihm fern. Rosi beobachtet, zeigt und hört zu, er zwingt dem Publikum keine Meinung auf und lädt es vielmehr zu eigener Reflektion ein. Über ein Jahr lang lebte der Filmemacher auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, die auf Grund ihrer Nähe zum afrikanischen Kontinent ein häufiges Ziel von Flüchtlingsbooten ist: Er filmte Einheimische, Fischer, Ärzte, Helfer und auch Rettungsaktionen auf hoher See, ohne die Bilder zu kommentieren. Dabei sprechen gerade die zuweilen schwer zu ertragenden Aufnahmen von den überfüllten Flüchtlingsbooten und der ersten Hilfe für die völlig erschöpften und geschundenen Menschen auch so eine deutliche Sprache und machen aus „Seefeuer“ ein eindrucksvolles Plädoyer für humanes Handeln.
Gianfranco Rosis zurückhaltender Ansatz ist grundsätzlich eine Wohltat, aber es lässt sich durchaus kritisch anmerken, dass er die aus Afrika und der arabischen Welt stammenden Flüchtlinge, die er in Auffanglagern und an Bord der Rettungsboote filmt, nicht ebenso individualisiert wie die porträtierten Italiener. Die Neuankömmlinge bleiben eine undefinierte Masse, nur in einer Szene mit einem improvisierten Fußballspiel teilen die Flüchtlinge selbst die Mannschaften nach Nationalitäten ein und feuern sie entsprechend an (Syrien! Sudan! Senegal!). Ansonsten bleiben sie passiv, bedürftig, auf Hilfe angewiesen, aber das ist natürlich auch den Umständen geschuldet. Ob die italienischen Behörden die Hilfeleistungen gerne gewähren oder einfach weil es nicht anders geht, bleibt offen. Allein ein Arzt kann angesichts der Bilder von verletzten, dehydrierten, kaum noch lebenden Menschen seine Empörung nicht zurückhalten und fordert voller Emphase mehr und bessere Hilfe für die Flüchtlinge.
Dieser Arzt ist hier in gewisser Weise das verbindende Glied zwischen den namenlosen Flüchtlingen und den Inselbewohnern, von denen vor allem der zwölfjährige Samuele im Mittelpunkt steht. Mit diesem etwas altklugen, aber grundsympathischen Jungen hat Rosi eine wunderbare Figur gefunden: Dass dessen Leben - vom Spielen im Freien mit Steinschleuder und Feuerwerk sowie von der langsamen Vorbereitung auf den Fischerberuf geprägt - so gar nichts mit der Not der Flüchtlinge zu tun hat, mag Rosis Punkt sein: Zwei Welten stehen da unmittelbar nebeneinander, die sich nur in wenigen Momenten berühren. Das Leben in Europa geht weiter seinen Gang, viele helfen und engagieren sich, aber die meisten lassen die Nöte und Probleme der Hilfesuchenden nicht an sich herankommen oder wollen gar nichts von ihnen wissen. Gegen dieses Wegsehen richtet sich Gianfranco Rosi mit seinem Film und damit leistet er eben auch einen wichtigen politischen Beitrag, was ihm zusätzliche Pluspunkte bringen könnte, wenn die Jury in Berlin über die Bärenvergabe entscheidet.
Fazit: Ein vielschichtig-beobachtender Blick auf die Insel Lampedusa, die wie kaum ein anderer Ort in Europa im Mittelpunkt der Flüchtlingsströme liegt.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.