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    Wild
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Wild
    Von Thomas Vorwerk

    Wenn Filmemacher ihre ganz individuellen Obsessionen mit der Welt teilen und uns in entsprechend subjektive Fantasiewelten entführen, dann ist es gerade diese persönliche Note, die für besondere Faszination sorgt - selbst auf die Gefahr hin, dass man sich als Zuschauer irgendwann weit jenseits der eigenen Wohlfühlzone wiederfindet. Ein solche reizvoll-ungewöhnliche, zuweilen auch irritierende Kinoerfahrung bietet uns nun die als Schauspielerin bekannt gewordene Nicolette Krebitz („Unter dir die Stadt“), die mit ihrer dritten Regiearbeit „Wild“ in die Gefilde eines David Lynch („Eraserhead“) oder eines Gaspar Noé („Enter The Void“) vorstößt. Ihr als Drama nur unzureichend klassifizierter Film wird seinem Titel dabei auch erzählerisch gerecht: Die märchenhaft-eigensinnige Erkundung weiblicher Sehnsüchte wird das Publikum spalten – und niemanden kalt lassen.

    Ania (Lilith Stangenberg) wirkt wie eine mausgraue Sekretärin, doch tatsächlich wird sie in ihrem Job in einem modernen Büro nur nicht gefordert. Ihr Boss Boris (Georg Friedrich) schmettert ab und zu einen Ball an die trennende Glaswand und dann heißt es für Ania: Kaffee kochen! Mehr kriegt die Frau kaum zu tun und auch außerhalb der Arbeit zieht sie sich scheu aus der Gesellschaft anderer zurück. Einzig den schwerkranken Großvater besucht sie regelmäßig im Krankenhaus. Als Ania auf dem Nachhauseweg durch einen Waldstreifen zufällig einen ausgewachsenen Wolf entdeckt, weckt diese Begegnung Empfindungen in ihr, die ihr zuvor fremd waren. Sie hängt ein teures Steak an einen Ast, um „Kontakt“ aufzunehmen …

    Zunächst könnte man glauben, dass Ania schlicht von einer geistigen Verwirrung erfasst wird – darauf deutet zumindest die Vernachlässigung ihres Jobs (und Erscheinungsbildes). In kürzester Zeit informiert sich die junge Frau über Jagdmethoden, bastelt sich Betäubungspfeile und sperrt schließlich den Wolf in einem freigewordenen Zimmer ihrer Plattenbauwohnung ein. Und dann wird der Film wirklich „wild“, lässt einfache psychologische Erklärungen weit hinter sich und entwickelt eine erstaunliche Sogwirkung. Ania kommt ihrem tierischen Untermieter näher, als manchem Zuschauer lieb sein mag, außerdem lässt sie sich auch auf eine kaum als „normal“ zu bezeichnende Beziehung mit Boris ein. Aber anders als in vielen Märchen wie dem in „Wild“ sehr präsenten „Rotkäppchen“ geht es hier weniger um die animalische Seite der (männlichen) Sexualität. Regisseurin Nicolette Krebitz erzählt vielmehr von der Sehnsucht nach der Wildheit der Natur, nach Ursprünglichkeit und Freiheit.

    Kameramann Reinhold Vorschneider („Der Räuber“) lässt uns Anias faden Alltag zu Filmbeginn immer wieder durch Scheiben und Fenster betrachten, ehe sich die Räume spürbar öffnen. Zugleich übernehmen das Märchenhafte und Allegorische das Kommando, wobei sich Krebitz nicht immer ganz erfolgreich auf einen schmalen Grat begibt: Einige der nun geschilderten Situationen sind für sich betrachtet so komisch, dass sie die entrückte Atmosphäre des Films für Momente fast zerstören – etwa wenn Ania ihrem Wolf wie eine brave Ehefrau Rührei zum Frühstück macht oder die beiden plötzlich mit einem erstaunlich robusten Kaninchen zusammenleben. Eins steht fest: Hier werden furchtlos Konventionen ignoriert und Tabus durchbrochen. Und die Hauptdarstellerin wird über die Grenzen ihres Berufs gefordert: Ang Lee hat für seinen Tiger in „Life of Pi“ CGI-Effekte gebraucht, hier sind zwei echte Wölfe und die unerschrockene Lilith Stangenberg („Die Lügen der Sieger“) zu sehen. Hier und da hilft Bettina Böhler („Barbara“) mit ihrer cleveren Montage ein wenig nach, aber manche Einstellungen sind schier unglaublich.

    Fazit: „Wild“ ist nichts für Zartbesaitete (und Logikfanatiker), er schockt und fasziniert. Und könnte sich trotz einiger Schwächen das im deutschen Kino seltene Prädikat „Kultfilm“ verdienen.

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