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    Die Lebenden reparieren
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Lebenden reparieren
    Von Antje Wessels

    2016 wurden in Deutschland 2.256 Organe transplantiert. Auf der Warteliste für eine solche lebensnotwendige Operation stehen hierzulande allerdings über 14.000 Patienten – eine Diskrepanz, mit der die Medizin seit Jahren zu kämpfen hat: Gerade einmal 36 Prozent der Menschen haben ihre Bereitschaft, im Todesfall eines oder mehrere Organe zu spenden, in einem Organspendeausweis festgehalten. Wenngleich es zuletzt eine leicht ansteigende Tendenz gab und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung große Summen in Werbekampagnen steckt, sind wir im Jahr 2017 noch weit davon entfernt, dass jeder, der ein Organ benötigt, auch eines bekommt. Auch in unserem Nachbarland Frankreich ist das Thema akut: In ihrer Romanverfilmung „Die Lebenden reparieren“ zeigt Regisseurin Katell Quillévéré („Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“), wie die einzelnen Zahnräder bei der Entscheidung für oder gegen eine Organspende und bei deren Durchführung ineinandergreifen. Da ist zum einen der hirntote Spender mitsamt seiner Angehörigen, zum anderen die verzweifelte Empfängerin, die zusammen mit ihren beiden Söhnen auf ein Spenderherz wartet. Und mittendrin bemühen sich die Mediziner, das ganze Verfahren reibungslos und schnell über die Bühne zu bekommen, um möglichst viele Menschenleben retten zu können. „Die Lebenden reparieren“ ist ein ebenso realistisches wie beklemmendes Drama und außerdem ein überzeugendes Plädoyer für die Organspende.

    Bei einem Autounfall verletzt sich der 20-jährige Simon (Gabin Verdet) so schwer, dass keine Aussicht auf Rettung besteht. Der leidenschaftliche Surfer ist klinisch tot, nur die Maschinen halten ihn noch am Leben. Für seine Eltern Marianne (Emmanuelle Seigner) und Vincent (Kool Shen) bricht eine Welt zusammen, gleichzeitig stehen sie vor der Frage, ob sie die lebenserhaltenden Maßnahmen beenden und Simons Organe zur Spende freigeben sollen. Für die beiden beginnt ein verzweifeltes Ringen um die richtige Entscheidung, während viele Kilometer entfernt die Pariserin Claire (Anne Dorval) auf ein Spenderherz wartet. Seit Monaten werden ihre Werte schlechter und schlechter, auch ihre beiden Söhne machen sich zunehmend Sorgen. Als eines Abends Claires Telefon klingelt und sich zeitgleich zwei Mediziner auf den Weg machen, ein frisch entnommenes Herz zu seiner neuen Besitzerin zu transportieren, scheinen sämtliche wichtigen Weichen gestellt zu sein…

    Die vielfach ausgezeichnete Bestsellervorlage „Réparer les Vivants“ von Maylis de Kerangal ist nicht zuletzt deshalb so spannend und intensiv, weil sich die gesamte Handlung mit all ihren dramatischen Etappen innerhalb von nur 24 Stunden abspielt. Diesen engen Zeitrahmen bis zur Transplantation des Herzens behält auch Katell Quillévéré in ihrem Film bei, allerdings rückt sie eine größere Anzahl von Personen ins erzählerische Blickfeld und bindet über diverse Rückblenden auch die Vorgeschichte stärker ein. Durch die geschickte Dramaturgie werden die Sorgen und Nöte der Beteiligten noch verständlicher und vor allem bekommt das Publikum ein Gefühl dafür, wie quälend die Zeit für die Beteiligten vorangeht: Die Uhr tickt unaufhaltsam und zugleich lässt die rettende Lösung lange auf sich warten. Dem menschlichen Drama stehen die organisatorischen und medizinischen Abläufe gegenüber, die hier vergleichsweise kurz kommen, aber in ihrer zweckgerichteten Nüchternheit einen wirkungsvollen Kontrast zur allgemeinen psychischen Anspannung bilden. Vor allem der Transport des Herzes von einem Krankenhaus zum anderen entwickelt dabei in einer detaillierten Szene eine ganz eigene Spannung. Quillévéré lässt die Fakten für sich selbst sprechen, die zurückhaltende Bild- und Tongestaltung ist fast schon dokumentarisch, wodurch das Bedrückende der Situation letztlich noch nachhaltiger zum Ausdruck kommt.

    Ähnlich wie in dem thematisch gar nicht so weit entfernten Abtreibungsdrama „24 Wochen“ (auch da geht es schließlich um Entscheidungen über Leben und Tod), stehen in „Die Lebenden reparieren“ die menschlichen Emotionen der reinen Vernunft gegenüber. Emmanuelle Seigner („Schmetterling und Taucherglocke“) und Kool Shen („Missbrauch“) bringen uns die tiefe Trauer der vom Tod ihres Sohnes völlig unvorbereitet getroffenen Eltern eindrucksvoll nahe, doch im Mittelpunkt steht stets die von Simons Arzt Thomas (Tahar Rahim) auf den Weg gebrachte (und in Anbetracht der Zeit vor allem drängende) Frage danach, ob eine Entnahme der Organe möglich sei. Mit dieser Entscheidung sind Marianne und Vincent in ihrer tragischen Lage eigentlich überfordert, ihre Situation wird differenziert dargestellt, es wird klar, welche Überwindung eine solche Entscheidung kostet und auch als sich Simons Mutter detailliert gegen die Entnahme einiger Organe ausspricht, enthält sich die Filmemacherin jeden Urteils. Diese Sachlichkeit gibt Katell Quillévéré beim Porträt der Patientin Claire zeitweise auf und geht bei dem Versuch aufzuzeigen, wie sehr deren gesamtes Leben durch das Warten auf ein nötiges Organ bestimmt wird, ein wenig zu sehr ins Melodramatische. Aber nur die erotische Fantasie einer für das Geschehen irrelevanten Krankenschwester mit dem von ihr angehimmelten Arzt ist ein echter Fremdkörper in dieser sonst so aufs Wesentliche konzentrierten Erzählung.

    Fazit: Im Organspende-Drama „Die Lebenden reparieren“ wird das hochemotionale Thema ebenso beklemmend wie realistisch aufgearbeitet. Gut möglich, dass im Anschluss an den Film einige Zuschauer ihren lebensrettenden Organspendeausweis beantragen.

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