Egal ob Katastrophendrama („Take Shelter“) oder Südstaatenthriller („Mud“), Regisseur Jeff Nichols bricht Genres in seinen Filmen regelmäßig auf eine ganz persönliche, durch und durch menschliche Ebene herunter. So entpuppte sich zuletzt selbst sein Fantasyfilm „Midnight Special“ trotz Augenlasern und Meteoriteneinschlägen im Kern als intimes Familiendrama. In seinem Cannes-Wettbewerbsbeitrag „Loving“ geht es nun um den wahren Gerichtsfall „Loving Vs. Virginia“, in dem Ende der 1960er Jahre das Verbot gemischtrassiger Ehen in einigen US-Bundesstaaten verhandelt wurde. Aber auch diesmal bleibt Nichols seinem subtilen Stil treu, unterläuft konsequent alle Erwartungen des Publikums an ein klassisches Gerichtsdrama und liefert so einen der leisesten, unaufgeregtesten, bescheidensten und dennoch kraftvollsten Bürgerrechtsfilme überhaupt.
Die großen Protestmärsche um Martin Luther King sind nur einmal kurz im Fernsehen zu sehen – und auch die kämpferischen Menschenrechtsanwälte von der American Civil Liberties Union (ACLU), die den Fall der Lovings unbedingt vor den Obersten Gerichtshof bringen wollen, tauchen erst nach einer guten Stunde auf (und spielen dann ebenso wie der Prozess selbst nur eine Nebenrolle): Der weiße Bauarbeiter Richard (Joel Edgerton) und seine schwarze Freundin Mildred (Ruth Negga) wirken bereits in den ersten Minuten des Films als Paar so natürlich, dass es geradezu absurd erscheint, dass ihnen jemand ihre Liebe verbieten will. Und trotzdem: Obwohl sie extra in die US-Hauptstadt Washington gefahren sind, um noch vor der Geburt ihres ersten Kindes heiraten zu können, ist die Heiratsurkunde in ihrem Heimatstaat Virginia nichts wert: Einer Gefängnisstrafe kann das Ehepaar nur entgehen, wenn es sich schuldig bekennt und zustimmt, für 25 Jahre nicht mehr gemeinsam nach Virginia zurückzukehren ...
Bei einem solch fundamentalen Thema wie Bürger- und Menschenrechte lassen viele Filmemacher keine Gelegenheit aus, um beim Publikum Wut zu schüren – so prasseln etwa die Schlagstöcke der rassistischen Polizisten in „Selma“ vornehmlich in Zeitlupe auf die Protestierenden nieder. Das ist auch absolut legitim, denn zum einen ist die Aufregung natürlich angebracht, und zum anderen sind es oft genug Wut und Empörung, die schließlich die Veränderung bringen. Aber Nichols wäre nicht Nichols, wenn er nicht auch in diesem Genre einen völlig anderen Weg wählen würde: Während das Publikum gleichsam aus Gewohnheit darauf wartet, dass Richard und Mildred von irgendwelchen Rassisten niedergeknüppelt werden, verzichtet Nichols fast vollständig auf die Darstellung offener Anfeindungen. Abgesehen von dem Arschloch-Sheriff Brooks (Marton Csokas), der keine Gewalt anwendet und nach drei Szenen auch nicht wieder vorkommt, sowie einer ins Auto gelegten Ziegelsteindrohung gibt es nichts, wogegen sich unsere Wut ganz konkret und gezielt richten könnte. Selbst der Richter (David Jensen), der sich ganz offen gegen gemischtrassige Ehen ausspricht, lässt die Lovings noch einmal vom Haken, als diese trotz ihrer Bewährungsauflagen zur Geburt ihres ersten Babys noch einmal gemeinsam zu ihren Familien nach Virginia zurückkehren.
Dazu passend liefern auch die Hauptdarsteller extrem zurückgenommene Darbietungen: Variety hat in seiner Kritik zu „Loving“ gelobt, dass Joel Edgerton („The Gift“) und Ruth Negga („Agents Of S.H.I.E.L.D.“) zwei der besten Schauspielleistungen in einem amerikanischen Film der vergangenen Jahre zeigen – und obwohl wir dieser Einschätzung absolut zustimmen, könnte es mit Oscarnominierungen für die beiden dennoch eng werden, weil sie eben nicht – wie in vergleichbaren Filmen oft üblich - große Gefühlsausbrüche oder emotionale Reden zum Besten geben. Aber nicht nur mit seiner ungewöhnlichen Schwerpunktsetzung und seiner subtilen Schauspielerführung unterläuft Nichols komplett die Zuschauererwartungen, auch einzelne Szenen löst er immer wieder überraschend auf, darunter etwa einen dramatisch gefilmten Autounfall: Es müssen nicht immer tragische Todesfälle oder Schlagstock schwingende Polizisten sein, um eine Familie zu brechen. Manchmal genügt auch schon ein aufgeschürftes Knie.
Bisher ging es in dieser Kritik hauptsächlich darum, was Jeff Nichols alles anders macht als seine Kollegen bei klassischen Bürgerrechtsfilmen oder Justizdramen. Aber das sagt noch nicht unbedingt viel über die Qualität von „Loving“ - wie kommt unsere hohe Wertung also zustande? Das Grandiose und Wahrhaftige ist hier schlicht die Selbstverständlichkeit, mit der Nichols dem Paar begegnet – der Kontext des Prozesses oder der Diskriminierung kommt erst später dazu. Nachdem wir nur wenige ganz alltägliche Szenen mit den beiden gesehen haben, fühlt es sich beinahe an, als würde der Regisseur nun zu uns herüberschauen und kopfschüttelnd fragen: „Was wollt ihr denn jetzt noch mit schlagenden Cops oder debattierenden Advokaten – natürlich gehören die beiden zusammen, basta!“
Nichols‘ konsequentes Understatement und die Weigerung, sich auf die Spielregeln des Genres einzulassen, sind natürlich auch ein deutliches Statement: Weil sie sich nicht anhören wollen, wie der Staat Virginia argumentiert, dass ihre gemischtrassige Ehe nur minderwertige Bastard-Kinder hervorbringt, reisen die Lovings zur entscheidenden Verhandlung nicht einmal mehr persönlich an (und auch der Zuschauer bekommt – wie sollte es anders sein - nur zwei sehr kurze Redeausschnitte aus dem für die amerikanische Geschichte so bedeutenden Prozess zu sehen). Aber dieser Familie einfach nur dabei zuzusehen, wie sie sich ein Haus baut, wie sie ihre Kinder aufzieht, wie sie umeinander bangt, wie sie sich liebt, das ist sowieso ein viel kraftvolleres Statement für die Freiheit der Ehe als es jedes Plädoyer vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten je sein könnte.
Fazit: Jeff Nichols verzichtet konsequent auf die üblichen Stilmittel des Bürgerrechtskinos und schafft gerade deshalb ein besonders nachhaltiges und berührendes, zutiefst menschliches Werk.
Wir haben „Loving“ im Rahmen der 69. Filmfestspiele von Cannes gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wurde.