Mit betörenden Schwarz-Weiß-Bildern, die dem Dschungel des Amazonas ein noch geheimnisvolleres, beinahe unwirkliches Antlitz verleihen, erzählt Regisseur Ciro Guerra („Die Reisen des Windes“) in seinem mystischen Entdeckerdrama „Der Schamane und die Schlange“ vom Zusammenprall zweier Welten. Im Mittelpunkt des düsteren Abenteuerfilms steht der mächtige Schamane Karamakate (jung: Nilbio Torres/alt: Antonio Bolívar), der als letzter Überlebender eines indigenen Volkes auf zwei fremde Wissenschaftler trifft. Diese beiden mehrere Jahrzehnte auseinanderliegenden Begegnungen werden zu den zentralen Handlungssträngen des Films und schneiden sich in der Folge immer wieder wie zwei benachbarte Flussläufe - im Herzen des Amazonas verschwimmen die Grenzen der Zeit. Karamakates gemeinsame Reise mit dem erkrankten Ethnologen Theo (Jan Bijvoet) im Jahre 1909 und sein Zusammentreffen mit dem Botaniker Evan (Brionne Davis) im Jahr 1940 lassen den stolzen Ureinwohner zu der Erkenntnis gelangen, dass das Wissen der Naturvölker in der sich verändernden Welt zu verschwinden droht, wenn es niemand für die Nachwelt dokumentiert. Und so toleriert er die interessierten Weißen, denen er im Grunde ablehnend gegenübersteht. Dass diese skeptische Haltung gute Gründe hat, zeigt uns Ciro Guerra mit seinem ebenso poetischen wie klarsichtigen Film über eine dem Untergang geweihte Welt und verschaffte Kolumbien damit 2016 seine allererste Oscar-Nominierung in der Kategorie Bester nicht-englischsprachiger Film.
„Der Schamane und die Schlange“ ist inspiriert von den historischen Aufzeichnungen des Forschers Theodor Koch-Grünberg und des 30 Jahre später nachfolgenden Kollegen Richard Evans Schultes, die sich beide auf die Suche nach der angeblich heilenden und halluzinogene Kräfte bergenden Pflanze Yakruna begeben haben. Mit dem beständigen Wechsel zwischen der Expedition des todkranken Deutschen und der Reise des auf dessen Spuren wandelnden US-Amerikaners werden die Veränderungen spür- und sichtbar, die Kautschukgier und Missionierung den Einheimischen während der dazwischenliegenden drei Jahrzehnte gebracht haben. Jeder Halt auf dem Weg im Einboot den Fluss hinunter offenbart von Neuem die erschreckenden Auswüchse der brutalen Ausbeutung durch die Fremden. Aber „Der Schamane und die Schlange“ bietet nicht nur prägnante Kolonialismus-Kritik, sondern verschafft uns mit seinen ausdrucksstarken Bildern und dem geheimnisvoll flirrenden Klangteppich auch einen sinnlichen Eindruck von den Geheimnissen des Dschungels. Auf den Spuren von Werner Herzogs „Aguirre, der Zorn Gottes“ beschwört Guerra den Selbstverlust im unwirklichen Urwald: Schönheit, Zerstörung und Wahn verschmelzen zu einem fiebrigen (Alb-)Traum zwischen Realität und Rausch, wissenschaftlichem Forschungsdrang und indigener Mystik.
Fazit: Kolumbiens Oscar-Kandidat 2016 ist eine hypnotische Kino-Reise zu den Mysterien des Amazonas und zu einer im Umbruch, wenn nicht gar im Sterben liegenden Zivilisation.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.