„Dürfen emanzipierte Frauen noch den Abwasch erledigen?“ Um diese hier nur ein wenig überspitzte Frage ging es bei der Pressekonferenz zu Mia Hansen-Løves Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Alles was kommt“ (im französischen Original heißt er einfach nur „L’avenir“ – die Zukunft). Gemeint war: Was sei denn nun wirklich von der Protagonistin des mit leichter Hand erzählten Dramas zu halten? Die Regisseurin zeigte sich verwundert über dieses Bedürfnis nach Eindeutigkeit, ihre Filme zeichnen sich gerade durch Vielschichtigkeit und Widersprüche aus, durch das elegante und sensible Spiel mit Möglichkeiten. Das galt für die Familiendramen „All Is Forgiven“ und „Der Vater meiner Kinder“ genauso wie für die so unterschiedlichen Coming-of-Age-Geschichten „Jugendliebe“ und „Eden“. Das gilt nun auch für ihren eloquent-emotionalen fünften Film „Alles was kommt“: So ist die im Zentrum der Handlung stehende Philosophin Nathalie (Isabelle Huppert), die von ihrem Ehemann und Kollegen Heinz (André Marcon) verlassen wird, eben weder eine in Konventionen gefangene Spießbürgerin noch eine radikale Umstürzlerin: Sie lässt sich vor keinen Karren spannen, gerade darin zeigt sich ihre Freiheit.
„Können wir uns in andere hineinversetzen?“, notiert Nathalie ganz zu Beginn von „Alles was kommt“ in ein Schulheft. Das ist natürlich nicht nur eine Frage für die Philosophielehrerin des Films, sondern auch eine für die Autorin Hansen-Løve, für die jedes Superlativ verdienende Schauspielerin Isabelle Huppert („Die Klavierspielerin“) und nicht zuletzt für uns Zuschauer, denn sie rührt an die Grundlagen des Geschichtenerzählens und der menschlichen Kommunikation. Und sie steht später unausgesprochen im Raum, wenn Heinz seiner Frau mitteilt, dass er eine andere kennengelernt habe und Nathalie darauf nur ganz ruhig erwidert: „Ich dachte, du würdest mich immer lieben.“ Die Mischung aus Verwunderung und Verletzung, Trotz und Traurigkeit, die Huppert in diese wenigen Worte legt, gibt dem Moment eine selten zu erlebende, herzzerreißende Wahrhaftigkeit – ein tränenreicher Zusammenbruch ist da gar nicht nötig.
Immer wieder tut sich hier eine Kluft auf zwischen den Menschen – sei sie ökonomisch (wenn Nathalies Lehrbuch bei ihrem Verlag mangels Popularität nicht mehr gefragt ist), ideologisch oder emotional. Aber wenn die Philosophielehrerin ihre Schüler bei allem Hinterfragen daran erinnert, dass es eben auch feststehende Wahrheiten gibt, dann werfen uns Hansen-Løve und Huppert gleichsam das Seil zu, das uns helfen kann, diese Kluften zu überwinden und erzählen vom (Selbst-)Vertrauen. So kann Nathalie dann auch tatsächlich lachen, als sie Heinz und seine Neue völlig unerwartet auf der Straße erblickt. Die Leichtigkeit, mit der große Gedanken (es gibt Handverlesenes von Rousseau bis Pascal) und die alltäglichsten Dinge hier nebeneinandergestellt werden, erinnert ein wenig an die Filme von Eric Rohmer („Wintermärchen“ nennt die Regisseurin selbst als Inspiration), ist aber zugleich Ausdruck einer ganz eigenen erzählerischen Freiheit: Die zeigt sich etwa beim Musikeinsatz (von Schubert über Woody Guthrie bis zur selten so aufwühlenden „Unchained Melody“), bei einer übergewichtigen Katze namens Pandora und bei einer zwischen tiefer Depression und unbändiger Lebensfreude hin- und hergerissenen alten Dame (großartig als Nathalies Mutter: Edith Scob).
Fazit: Großartiges dialogreiches, aber nie geschwätziges französisches Kino voller anregender Ideen und Gefühle.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.