Als Marcus (nach „Herz aus Stahl“ ein weiterer ganz starker Auftritt von Logan Lerman) 1951 an sein kleines College in Ohio kommt, wird er mit den einzigen beiden anderen verbindungslosen jüdischen Studenten in ein Zimmer gesteckt – bei der Raumzuteilung wird eben penibel darauf geachtet, dass die Studenten sich in ihren Gruppen auch wohlfühlen. Und obwohl Marcus sich selbst als religionslos bezeichnet, muss er bis zum Abschluss mindestens 50 Mal an der wöchentlichen Campuspredigt teilnehmen, während ihn sein Dekan (schon jetzt ein Kandidat für eine Oscarnominierung: Tracy Letts) löchert, warum er in seiner Bewerbung beim Beruf des Vaters denn „Schlachter“ und nicht „koscherer Schlachter“ angegeben habe. „Empörung“ ist der wohl persönlichste Roman von Philip Roth, in ihm verarbeitet der Autor von „Der menschliche Makel“ seine eigenen Studienerfahrungen. Dabei geht es um einen jungen, fleißigen Mann, der nicht rebelliert oder sich laut auflehnt, sondern einfach nur still für sich sein eigenes Ding machen will – trotzdem wird er von der angeblich so offenen Gesellschaft immer wieder in eine bestimme Richtung gedrängt, weil so doch alles viel einfacher und besser für ihn wäre.
„Empörung“ hätte man ohne weiteres als offensichtliche, unverhohlen-wütende Anklage des engstirnigen Amerikas der 1950er fürs Kino adaptieren können. Aber Hollywood-Tausendsassa James Schamus, der hier nach drei Oscarnominierungen in drei verschiedenen Kategorien (als Produzent von „Brokeback Mountain“ sowie als Drehbuchautor und Songschreiber von „Tiger & Dragon“) mit 56 Jahren sein Debüt als Regisseur gibt, geht in seiner Version deutlich zurückhaltender und subtiler zur Sache: Niemand drängt Marcus offen in eine Ecke, ganz im Gegenteil - egal ob Mutter, Vater, Kommilitonen oder Professoren, alle wirken auf den ersten Blick hilfsbereit und verständnisvoll. So ist man nach dem ungleichen 20-minütigen Debattenduell zwischen Marcus und seinem Dekan, dem schauspielerisch wie intellektuell herausragenden Herzstück des Films, fast schon geneigt, dem Älteren zuzustimmen, dass es nun wirklich nicht so schlimm ist, einmal die Woche zur Messe zu erscheinen. Erst am Ende hat man verstanden, dass jungen Menschen wie Marcus in dieser Gesellschaft nur drei Alternativen bleiben: Sie passen sich an, sie zerbrechen oder sie widersetzen sich (und werden als Strafe in den Krieg geschickt). Drei Möglichkeiten, von denen nach „Empörung“ keine wirklich als kleineres Übel gelten kann.
Apropos „zerbrechen“: Während Marcus auf der einen Seite auf seine persönliche Freiheit pocht, kann auch er die gesellschaftlichen Konventionen keinesfalls völlig abstreifen. Als ihn seine – wie er später herausfindet - psychisch labile und schon häufiger an den Erwartungen der anderen verzweifelte Kommilitonin Olivia Hutton (grandios auf den Spuren von Sylvia Plath wandelnd: Sarah Gadon) gleich beim ersten Date oral befriedigt, ist er mit der Situation zunächst völlig überfordert: Ist sie deshalb nun automatisch eine Schlampe oder nicht? Tagelang beschäftigt Marcus diese Frage, sogar bei einem seiner Mitbewohner erkundigt er sich vorsichthalber. Im Film gibt es oft genug nur lupenreine Konformisten und Rebellen – da sind solche widersprüchlichen Figuren mit gegensätzlichen Eigenschaften höchst willkommen. Sie machen Marcus letztlich nur noch sympathischer – und das unvermeidliche Ende damit noch schmerzhafter und empörender.
Fazit: Tolles Schauspielkino – altmodisch inszeniert, aber deshalb nicht weniger provokant oder treffend.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.