Wolfgang Herrndorfs Jugendroman „Tschick“ (2010) verkaufte sich satte 2,2 Millionen Mal und wurde von der Kritik gefeiert. Kein Wunder, dass sich viele Filmschaffende um den Stoff gerissen haben. Auch Fatih Akin („Gegen die Wand“, „Soul Kitchen“), einer von Deutschland renommiertesten Filmemachern, bemühte sich um die Rechte an dem Bestseller, doch er hatte das Nachsehen. Der Zuschlag ging stattdessen an David Wnendt („Er ist wieder da“, „Feuchtgebiete“), der sich allerdings nach Unstimmigkeiten – mal ist von „Terminproblemen“ die Rede, mal von „kreativen Differenzen“ - überraschend von der Produktion verabschiedete. So bekam Akin neun Wochen vor Drehstart doch noch seine Chance und sprang als „Feuerwehrmann“ ein. Erstmals seit „Solino“ 2002 verfilmte der Autorenfilmer ein fremdes Drehbuch und dennoch bekam er die Tragikomödie „Tschick“ in den Griff: Seine Coming-Of-Age-Odyssee zweier Teenager durch die ostdeutsche Provinz ist ein melancholisch-heiteres Road Movie mit einem Hauch von Anarchie und ganz viel jugendlich-frischem Lebensgefühl.
Der 14-jährige Außenseiter Maik Klingenberg (Tristan Göbel) ist heimlich in seine populäre Klassenkameradin Tatjana (Aniya Wendel) an einem Gymnasium in Berlin-Marzahn verliebt. Doch die nimmt den unscheinbaren Nerd überhaupt nicht wahr und lädt ihn auch nicht zu ihrer Geburtstagsparty ein. Am Abend der Feier steht dann plötzlich Andrei „Tschick“ Tschichatschow (Anand Batbileg) vor Maiks Tür. Der kürzlich aus dem tiefsten Russland nach Deutschland gekommene Spätaussiedler hatte als einziger weiterer Mitschüler aus der Klasse ebenfalls keine Einladung erhalten und will den Leidensgenossen mit auf eine Spritztour in einem geklauten Lada nehmen. Maiks fröhlich-liebevolle Alkoholiker-Mutter (Anja Schneider) hat gerade in der Entzugsklinik eingecheckt und sein Kotzbrocken-Vater (Uwe Bohm) vergnügt sich auf einer „Geschäftsreise“ mit seiner Gespielin Mona aus der Firma, also packen die beiden Jungs Schlafsäcke und ein wenig Verpflegung ein und machen sich auf die Reise ins sommerliche Ungewisse.
Der ehemalige „Titanic“-Illustrator und Buchautor Wolfgang Herrndorf, der sich nach der Diagnose eines unheilbaren Hirntumors 2013 das Leben nahm, hat mit seinem Roman „Tschick“ den Nerv eines begeisterten Publikums getroffen. Seine unwiderstehlich-melancholische Mischung aus trister deutscher Realität und beflügelnder Abenteuerlust hat einen ganz eigenen Ton und erinnert zugleich aber auch an Klassiker wie „Tom Sawyer“ und „Stand By Me“. Die sind auch für den Last-Minute-Einspringer Fatih Akin wichtige Referenzen und das ist dem fertigen Film durchaus anzumerken. Zwar ist die unverkennbare Handschrift des Regisseurs in „Tschick“ nicht so deutlich zu spüren wie in seinen anderen Filmen, aber ansonsten macht sich die komplizierte Produktionsgeschichte kaum bemerkbar. Immerhin hatte Akin noch die Gelegenheit, gemeinsam mit seinem alten Förderer und Weggefährten Hark Bohm („Nordsee ist Mordsee“) das Drehbuch von Lars Hubrich zu überarbeiten und eigene Akzente zu setzen. Wie in jeder Literaturverfilmung fehlen in „Tschick“ einige Teile der Vorlage vollständig und es gibt natürlich auch hier jede Menge größere und kleinere Veränderungen. So mögen beispielsweise einige Actioneinlagen hinzukommen, aber der Geist der Vorlage bleibt erhalten.
Die Erzählweise ist genretypisch episodenhaft, ihr Weg führt Maik und Tschick von Station zu Station: So machen sie Halt bei einer netten Ökofamilie mit einem Haufen Kinder (skurril: die Zehnjährige hat ein Laufrad aus Holz!) oder geraten in einen Clinch mit einem Dorfpolizisten (Marc Hosemann). Die Details dieser Episoden bleiben eher nebensächlich, das Entscheidende ist immer das Gefühl von jugendlicher Freiheit und Abenteuerlust, das schon das Buch ausgezeichnet hat und das hier gleichsam aus jeder Einstellung strömt. Wenn Akin und sein Stammkameramann Rainer Klausmann („Gegen die Wand“, „Der Untergang“) die brandenburgische Provinz in satten Sommerfarben erstrahlen lassen, mit leuchtend gelben Rapsfeldern, tiefblauen Seen und erhabenen Himmelspanoramen, dann bekommt die Landschaft etwas Magisches. Für die beiden Jungs, die mit Keksen und Cola im Gepäck zu einer Reise ins Nichts aufgebrochen sind, wird aus der Ahnung, dass das Leben mehr zu bieten hat als der streng reglementierte und ritualisierte Schulalltag, vor dieser Kulisse schnell herzklopfende Gewissheit: Sie blicken mit zielstrebiger Orientierungslosigkeit über den Tellerrand ihres bisherigen Lebens hinaus.
Die beiden jungen Hauptdarsteller überzeugen mit viel Eigensinn und Charakter. Während der bereits erfahrene Tristan Göbel („Winnetous Sohn“) das routiniertere, strukturiertere Spiel zeigt, gefällt Newcomer Anand Batbileg mit Frische und Unbekümmertheit. Das Duo hält den Film zusammen, dazu sorgen popkulturelle Anspielungen und Zitate - von „Starship Troopers“ über Kevin Kuranyis Bart bis zu einem Running Gag mit der „Ballade pour Adeline“ des französischen Schmalz-Pianisten Richard Clayderman – immer wieder für Abwechslung. Der trockene, derb-sympathische Witz des Films hilft dabei auch über die eine oder andere kleinere erzählerische Unebenheit hinweg. So ist die arg klischeehafte und einseitige Figur von Maiks Ekelpaket-Vater fast schon ärgerlich und die Begegnung der Jungs mit der etwa gleichaltrigen Streunerin Isa (lebhaft: Nicole Mercedes Müller) leidet zunächst ein wenig unter dem wahrhaft unangenehmen Schauplatz (Tschick und Maik treffen das Mädchen auf einer Müllhalde). Aber schließlich mündet sie in einen ganz wunderbaren Moment, in dem die Drei sich gegenseitig versprechen, sich an einem bestimmten Punkt in 50 Jahren wiederzutreffen – und da ist der himmelstürmerische „Tschick“ dann ganz bei sich.
Fazit: Zu diesem Film kam Fatih Akin zwar wie die Jungfrau zum Kinde, aber der Star-Regisseur schafft es, sich die tragikomische Verfilmung von Wolfgang Herrndorfs gleichnamigem Coming-Of-Age-Bestseller „Tschick“ anzueignen und dem Stoff zugleich seine reizvollen Ecken und Kanten zu belassen.