Das Format springt sofort ins Auge. Die Bilder füllen die Leinwand nicht aus. Sie ähneln in ihrer fast schon quadratischen Form eher einem Fenster als den seit Jahrzehnten typischen Breitwand-Kompositionen, die – der Name deutet es schon an – Kinobilder in bewegte Wandgemälde verwandeln. Die breiten schwarzen Ränder, die die Bildkreationen des Kameramanns Antoine Héberlé im Kinosaal rechts und links rahmen, verstärken diesen Eindruck noch einmal. Die Entscheidung, heute noch einen Film im klassischen 1,33:1 (4:3)-Format zu drehen, das seit den 1970er und 80er Jahren fast nur noch Fernsehproduktionen vorbehalten war, ist zwar nicht einzigartig, denn vor allem Xavier Dolan („Mommy“) hat in den vergangenen Jahren mehrfach mit sehr engen Bildformaten experimentiert. Aber sie ist trotz allem ungewöhnlich und schärft den Blick des Betrachters. So erweist sich die Fenster-Assoziation schon bald als höchst aufschlussreich. Sie bietet eine Art Schlüssel zum Film und ist damit viel mehr als nur eine flüchtige gedankliche Verknüpfung. Stéphane Brizés Guy-de-Maupassant-Verfilmung „Ein Leben“ gleicht tatsächlich einem Fenster, das einen faszinierenden Blick in eine vergangene Zeit freigibt.
Die 17-jährige Jeanne Le Perthuis des Vauds (Judith Chemla) ist gerade zurück ins elterliche Schloss in der Normandie gekehrt. Die Jahre der Erziehung im Kloster sind vorüber. Nun kann sie ihre Zeit dem großen Schlossgarten widmen. Gemeinsam mit ihrem Vater, dem Baron (Jean-Pierre Darroussin), pflanzt sie Blumen und Gemüse an. Für die junge, hoffnungsvolle Landadelige ist es eine fast schon paradiesische Zeit, die niemals enden müsste. Doch der Baron und seine Frau (Yolande Moreau) beschließen, dass es an der Zeit sei, ihre Tochter zu verheiraten. Ein perfekter Kandidat erscheint schon bald im Schloss. Der junge und attraktive Vicomte Julien de Lamare (Swann Arlaud) ist zwar verarmt, aber das ist für die äußerst wohlhabende Familie der Le Perthuis des Vauds kein Hindernis. Nach kurzem Zögern willigt Jeanne in die Ehe ein und besiegelt damit ihr Schicksal. Ihr auf den ersten Blick so charmanter Mann entpuppt sich als geiziger Tyrann und notorischer Betrüger, der eine Affäre nach der anderen hat.
Anders als Maupassant erzählt Stéphane Brizé („Der Wert des Menschen“) die bittere Leidensgeschichte Jeannes, die von ihrem Mann betrogen und von ihrem innig geliebten Sohn bei jeder Gelegenheit hintergangen wird, nicht chronologisch. Die Folge der Ereignisse löst sich in Brizés assoziativer Montage mehr und mehr auf. Rückblenden gehen in kurze vorausdeutende Szenen über oder werden zum Ausgangspunkt für weitere Rückblenden. So kommt der Filmemacher Jeanne ganz nah und verwandelt ihr Leben in einen Strom von Erinnerungen und Vorahnungen, der die bittere Ausweglosigkeit ihres Seins kunstvoll akzentuiert. Aus dem eher klassisch gebauten Roman, in dem Maupassants noch von Flauberts Einfluss geprägter Stil und seine Sprache im Zentrum stehen, wird eine moderne Stream-of-Consciousness-Erzählung. Die Zeiten und Orte vermischen sich. Bild und Ton passen nicht immer zusammen. Die Lücken in Jeannes Erinnerung spiegeln sich in grandiosen Ellipsen und scheinbar nebensächlichen Momentaufnahmen. In einem Augenblick zeigt Brizé Jeanne und Julien zusammen mit einem anderen Paar beim Cricket-Spiel. Im nächsten wird sie Zeugin, wie ihr Mann sie mit ihrer besten Freundin betrügt.
Trotz der oft rauen Handkamera-Bilder erinnert Brizés Bildnis einer Betrogenen an Stanley Kubricks „Barry Lyndon“, eine der brillantesten Literaturverfilmungen der Filmgeschichte. Und in gewisser Weise wagt Brizé sogar noch mehr als Kubrick, denn er verzichtet streng auf alle klassischen Schauwerte des Kostümfilms. Es gibt keinen großen Ball in „Ein Leben“, und die dramatischsten Szenen des Buches erzählt Brizé nur indirekt. Dennoch entwickelt seine freie und zugleich absolut getreue Adaption von Maupassants Romandebüt eine überwältigende emotionale Wucht. Die Szene, in der ein Dorfpfarrer mit allen Mitteln versucht, Jeanne dazu zu bringen, dem Ehemann ihrer Freundin von deren Betrug zu erzählen, ist von einer kaum zu ertragenden Grausamkeit. Die angeblich nur der Wahrheit und dem Seelenheil der Betroffenen verpflichtete Logik des Priesters offenbart die zerstörerische Macht kirchlicher Dogmen mit einer solchen Kraft, dass es reicht, ihre Auswirkung in schlaglichtartigen Bildern zu illustrieren.
In „Ein Leben“ verkehrt sich eine berühmte Zeile aus Goethes „Faust“ in ihr Gegenteil. Während Mephisto „ein Teil von jener Kraft [ist], die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, sind Brizés Figuren Teile jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Natürlich sind es die Männer und das gesellschaftliche System, die Jeanne nach und nach ihrer Lebensfreude berauben. Aber auch die von Judith Chemla („Dieses Sommergefühl“) extrem zurückhaltend und präzise gespielte adelige Protagonistin selbst erweist sich im Umgang mit ihrer Dienerin als typische Vertreterin ihrer Gesellschaft. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der die Männer Jeanne ausnutzen und dann einfach beiseiteschieben, beutet sie ihre ihr ergebene Zofe aus.
Fazit: Nur wenige Literaturverfilmungen erzählen so schonungslos von den Verheerungen, die die Konventionen einer Epoche in den Seelen der Menschen hinterlassen haben, wie diese Adaption von Guy de Maupassants erstem Roman.