Kaum ein anderes Land der Erde ist in seiner Bevölkerungsstruktur so vielfältig wie die USA: 322 Millionen Menschen verschiedenster ethnischer, kultureller und gesellschaftlicher Prägung probieren sich beim Zusammenleben und die allermeisten von ihnen teilen die Idee einer großartigen gemeinsamen Nation. Diesem scheinbar unverwüstlichen American Dream spürt die britische Filmemacherin Andrea Arnold („Fish Tank“, „Wuthering Heights“) in ihrem US-Debüt „American Honey“ mit viel Ausdauer nach. Die Indie-Regisseurin begleitet in ihrem atmosphärischen, über zweieinhalbstündigen Road Movie eine Gruppe junger Amerikaner, die sich mit dem Verkauf von Magazin-Abos den Lebensunterhalt verdient: ein schwelgerisch-schöner, rauer und zügelloser Film über Amerika, über das Jungsein und über das Träumen.
Star (Sasha Lane) ist 18, sorgt statt der Mutter meist für ihre beiden Geschwister und schlägt sich mit deren primitivem Redneck-Freund herum. Davon hat sie irgendwann genug und schließt sich einer bunten Truppe von herumreisenden Magazinverkäufern an. Der beste Mann im Team der unnahbaren jungen Geschäftsfrau Krystal (Riley Keough) ist der extrovertierte Jake (Shia LaBeouf). Star und er fühlen sich zueinander hingezogen, aber Jake ist auch Krystals Freund. Und das ist nicht der einzige Konflikt, denn bald merkt Star, dass die Verkaufspraktiken der durch den Mittleren Westen tourenden Partytruppe nicht gerade ehrlich sind. Vor allem Krystal ist in der Wahl der Mittel nicht zimperlich …
„American Honey“ ist weniger eine Erzählung mit stringenter Handlung als die atmosphärische Erkundung eines Lebensgefühls. Die Figuren lassen sich gleichsam durch einen geradezu rauschhaften Reigen von wundervollen, mit der Handkamera fotografierten Impressionen treiben. Dabei gehören die Gesichter der größtenteils mit Laiendarstellern oder Schauspielneulingen besetzten extravaganten Drückerkolonne durchaus mit zu den Sehenswürdigkeiten dieses Amerika-Trips: Die Crew besteht aus echten Typen, was sie nur noch authentischer wirken lässt. Bei alldem gibt es letztlich nur drei genauer definierte Figuren, die damit verbundenen schauspielerischen Herausforderungen teilen sich die famose Debütantin Sasha Lane, Shia LaBeouf („Herz aus Stahl“) und die als knallhart-kaltherzige Drückerchefin überzeugende Elvis-Enkelin Riley Keough („Mad Max: Fury Road“, „Magic Mike“).
Im Zentrum der sehr lose strukturierten Geschichte steht die Ausreißerin Star und ihre Beziehung zu Jake, einen wandelnden Vulkan aus Fleisch und Blut. Ex-„Transformers“-Superstar LaBeouf hat auf Volldampfmodus geschaltet und tritt entsprechend extrovertiert und dominant auf, wobei er es manchmal ein wenig übertreibt. Doch das gleicht die junge Sasha Lane aus, die Andrea Arnold erst kurz vor dem Drehstart beim Spring Break in Florida entdeckt hat: Die Texanerin ist eine echte Entdeckung, ein Riesentalent mit einer verblüffend natürlichen Ausstrahlung, die wunderbar zu einem Film wie „American Honey“ passt. Hier geht es nicht um große Konflikte und dramatische Wendungen, entscheidend sind die Kleinigkeiten am Wegesrand, die beiläufigen Beobachtungen und die Stimmungen.
Wo es um Stimmungen geht, da spielt natürlich auch die Musik eine große Rolle - und „American Honey“ ist so voll davon, dass das Road Movie fast etwas von einem Musical hat: Es gibt viel Rap und Country zu hören, aber bei passender Gelegenheit schmettert die Reisegruppe auch Gassenhauer-Disco-Pop („We Found Love“ von Rihanna). Die atmosphärischen Musikcollagen gehören zu den emotionalsten Momenten des Films: Hier fügen sich die individuellen Sehnsüchte zu einem gemeinsamen, sehr amerikanischen Traum. Da scheint es dann plötzlich auch kein Widerspruch mehr zu sein, wenn in Krystals Crew das Utopische einer Kommune und handfeste Abzocke zusammenkommen. Verkaufen und stehlen gehen Hand in Hand – knapper und treffender lässt sich der Zustand Amerikas kaum beschreiben.
Fazit: Andrea Arnold zeichnet in ihrem Road-Movie-Drama „American Honey“ ein packendes Generations- und Gesellschaftsporträt.
Wir haben „American Honey“ im Rahmen der 69. Filmfestspiele von Cannes gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wurde.