Der Schauspieler und Regisseur Sebastian Schipper schuf gleich mit seinem Erstlingswerk „Absolute Giganten“ einen Kultfilm. Anschließend festigte er mit der Tragikomödie „Ein Freund von mir“ seinen Ruf als Experte für deutsche Buddy-Movies, bevor er in „Mitte Ende August“ den Goethe-Roman „Wahlverwandtschaften“ nach Brandenburg verlegte. „Victoria“, das aktuelle Werk des gebürtigen Hannoveraners, geht nun als einer von vier deutschen Wettbewerbsbeiträgen auf der Berlinale 2015 ins Rennen um den Goldenen Bären. Das Besondere an der ruppigen nächtlichen 140-Minuten-Odyssee ist, dass sie aus einer einzigen Plansequenz besteht, also in einem Schwung gedreht wurde. Wo Alfred Hitchcock in „Cocktail für eine Leiche“ noch recht unbeholfen tricksen musste, ist es heutzutage – der flexiblen digitalen Kameratechnik sei Dank – kein Problem mehr, tatsächlich einen Film aus einer einzigen Einstellung zu drehen. Das Schönste dabei ist, dass „Victoria“ viel mehr ist als nur eine technische und logistische Bravourleistung: Das irgendwo zwischen luftiger Romanze, dynamischem Thriller und fiebrigem Großstadtporträt angesiedelte Nachtstück besitzt eine unbändige Energie und entwickelt einen unwiderstehlichen Sog.
Die junge Spanierin Victoria (Laia Costa) ist neu in Berlin. Nach einer Partynacht in einem Elektro-Club trifft sie auf vier Berliner Jungs, die sich als Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) vorstellen. Die Kumpels haben schon zu viel Schlagseite, um den Türsteher zu passieren, daher begleitet Victoria die Jungs spontan zum Bier trinken und Sonnenaufgang gucken auf ein Dach in der Nähe. Dann nehmen die Ereignisse dieser Nacht eine unerwartete Wendung: Boxer schuldet dem Gangster Andi (André M. Hennicke) nämlich einen Gefallen, weil der ihn im Knast beschützt hat. Ein Banküberfall soll 50.000 Euro einbringen und weil Fuß zu besoffen ist, springt Victoria als Fahrerin des geklauten Fluchtwagens ein. Ehe sie so recht kapiert wie ihr geschieht, nimmt eine turbulente Kettenreaktion ihren Lauf...
Der norwegische Kameramann Sturla Brandth Grøvlen („I Am Here“) reitet mit seiner Handkamera 140 Minuten lang auf der Kanonenkugel. Von den ersten stroboskopischen Bildern der ekstatisch tanzenden Victoria über die Zufallsbekanntschaft mit den Jungs bis zum Banküberfall und darüber hinaus behält Grøvlen stets den Überblick. Bedenkt man die jeweils unterschiedlichen Lichtverhältnisse, die improvisierten Dialoge und das allgemeine Gewusel, das bei einer Aufnahme von über zwei Stunden Dauer in 22 (!) Locations kaum ausbleibt, ist Grøvlen eine erstaunliche Leistung gelungen, die ohne die Segnungen der digitalen Videotechnik nicht umsetzbar wäre. Anders als etwa Alejandro G. Inarritu bei „Birdman“ kommt Schipper dabei auch ohne Computertricksereien aus. Er stellt den gelackten HD-Bildern, die sonst auch im deutschen Kino so häufig zu sehen sind, eine bewusst nicht perfekte Ästhetik entgegen: Hier gibt es keine bis ins Kleinste ausgefeilte Lichtsetzung und keine Bodenmarkierungen für die Darsteller, sondern knackig-echte Dialoge, eine agile Kamera und gradlinige Unmittelbarkeit. Form und Inhalt ergänzen sich dabei nahezu ideal, Virtuosität und Emotionen verbinden sich zu einem intensiven Kinoerlebnis.
Drei Monate lang probte Sebastian Schipper mit seinen Darstellern, bevor die dramaturgisch ausgefeilte Plansequenz entstanden ist. Es wurden drei komplette Durchgänge gedreht, von denen der letzte dem fertigen Film entspricht. Neben dem verwegenen inszenatorischen Ansatz ist Sebastian Schipper auch mit seiner Besetzung ein kleiner Coup gelungen: Frederick Lau („Die Welle“) ist als Anführer der Dilettanten-Truppe perfekt in seiner Mischung aus Großspurigkeit und Verpeiltheit, während der mit Improvisationen bestens vertraute Franz Rogowski („Love Steaks“) sich geschmeidig in den Film einfügt. Die alles überstrahlende Figur ist aber die titelgebende Victoria: Die bisher vor allem im spanischen Fernsehen aktive Laia Costa zeigt gleich im doppelten Sinne eine bemerkenswerte Leinwandpräsenz: Bis auf wenige Ausnahmen bleibt die Kamera an ihr haften und sie verkörpert damit das Herz und das Zentrum des Films. Seite an Seite mit den Figuren erlebt das Publikum in Echtzeit die Ereignisse rund um den heillos vergeigten Banküberfall.
Fazit: Die filmische Reise durch eine Berliner Nacht zwischen Party und Bankraub ist ein echtes Bravourstück: dynamisch, virtuos, emotional.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2015. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 65. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.