Im Dezember 2015 wird Woody Allen 80 Jahre alt. Trotzdem ist der legendäre Regisseur kein Mann der Vergangenheit, sondern einer, der lieber nach vorne blickt. So schaut er sich seine eigenen Filme nicht mehr an, nachdem er sie geschnitten hat - womöglich einer der Gründe, warum der New Yorker diesen brutal-effizienten Film-Output im Jahresrhythmus auch im respektablen Alter noch einhalten kann, ohne sich selbst auszulaugen. Sein bereits 46. Spielfilm, die schwarzhumorige Krimi-Komödie „Irrational Man“, die beim 68. Filmfestival in Cannes 2015 außer Konkurrenz im Wettbewerb ihre Premiere feiert, ist natürlich wieder ein typischer Allen. Nach dem charmanten, aber zahmen Federgewicht „Magic In The Moonlight“ fällt das neueste Werk des „Manhattan“-Regisseurs wieder bissiger aus, auch wenn er bei seinem 12. Cannes-Auftritt das Rad ganz sicher nicht neu erfindet.
Philosophie-Professor Abe Lucas (Joaquin Phoenix) eilt sein Ruf voraus, als er am College in Newport, New England einen Lehrstuhl annimmt. Auf professioneller Ebene wird der brillante, alleinstehende Querdenker den Vorschusslorbeeren vollkommen gerecht. Doch privat findet Abe kaum noch Motivation und lebt selbstzerstörerisch ohne Ziele. Die Hoffnung, den Sinn des Lebens zu finden, hat er längst aufgegeben, aber dann bringen zwei Frauen seine Routine ins Wanken. Seine verheiratete, aber emotional einsame Kollegin Rita Richards (Parker Posey) fordert frech eine Affäre ein, die Abe mehr über sich ergehen lässt, als dass er sie genießt. Viel mehr Interesse hat er hingegen an seiner Studentin Jill Pollard (Emma Stone), die ihn tatsächlich intellektuell kitzelt. Die beiden verbringen viel Zeit miteinander, was Jills Beziehung zu ihrem Freund Roy (Jamie Blackley) verkompliziert. Was Abe aber effektiv neues Leben einhaucht, ist die Planung einer fixen, völlig verrückten Idee: Er will einen Mord begehen – mit moralischen Motiven!
Woody Allen bekennt offen, dass ihn der schwedische Auteur Ingmar Bergman („Wilde Erdbeeren“) mit seinen Filmen als Jugendlicher zutiefst beeindruckt und er sich in dessen philosophischen Fragestellungen verloren hat. Dem huldigt Allen in „Irrational Man“ ausgiebig. Wie alle seine Filme spielt auch dieser nicht vollständig in der realen Welt, sondern in diesem speziellen Woody-Allen-Paralleluniversum, das frappierende Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit hat, aber um Nuancen anders funktioniert. Nachdem der Plot eingefädelt ist, weiß dann auch jeder Allen-Fan, wie es weitergehen wird: Abe setzt sein Hirngespinst in die Tat um, aber die Reaktionen darauf sind viel radikaler, als er es sich vorgestellt hat.
Schon in früheren Allen-Filmen wie „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ (1989) oder „Match Point“ (2005) ging es um Mord. Doch diesmal schlägt der Regisseur einen deutlich verspielteren Ton an. Er legt sofort mit Zitaten von großen Denkern wie Kant („selbst bei Gefahr für Leib oder Leben besteht kein Recht auf eine Lüge“) oder Kierkegaard los - so ist sofort klar, dass die aufgeworfenen Fragen in seinem Film ausschließlich auf philosophischer Ebene behandelt werden. Unter der Prämisse lässt er seine Figuren den Mord als Tat diskutieren und amüsant durchspielen – inklusive der Folgen. Das mag anstrengend klingen, ist es aber nicht. Denn Allens Dialoge haben den gewohnten Biss und den nötigen Humor. Außerdem stimmen die Running Gags, wenn die Mythen um Abe Lucas von den Leuten immer wilder ausgeschmückt werden.
Mit dieser dem schweren Thema bewusst entgegenstehenden Leichtigkeit grenzt sich Woody Allen deutlich von der Realität ab, in der ein Mord ganz sicher andere Konsequenzen hätte. Dazu trägt auch die Inszenierung bei: Kameramann Darius Khondji („Midnight in Paris“, „Sieben“) erzeugt mit seinen wundervoll warmen Bildern eine wohlig-elegante Atmosphäre. Und über allem schwebt Ramsey Lewis‘ herrlich beschwingtes Jazz-Instrumental „The ‚In‘ Crowd“ als musikalisches Dauerthema, was die Stimmung zusätzlich auflockert. So entpuppt sich „Irrational Man“ als stilsicher-unterhaltsamer moralischer Diskurs über den Wert und den Sinn oder eben die Sinnlosigkeit des Lebens.
Wenn Woody Allen ruft, kommen die Stars noch immer. Nach „Magic in the Moonlight“ greift er ein weiteres Mal auf seine aktuelle Muse Emma Stone („Birdman“) zurück. Sie ist die Idealbesetzung, weil sie das Lustige wie das Ernste beherrscht, aber vor allem über das nötige Charisma verfügt, um auch neben einem Schwergewicht wie Joaquin Phoenix („Walk The Line“) mühelos bestehen zu können. Stone ist als Studentin Jill selbstbewusst und schwärmerisch, aber letztendlich doch auch sehr erwachsen. Sie wird zum moralischen Gradmesser für Abe. Vollblutmime Phoenix geht unterdessen voll in der von Allen zwar nicht mit dem Schauspieler im Kopf geschriebenen, aber nichtsdestotrotz für ihn maßgeschneiderten Rolle auf. Er gibt genüsslich den destruktiven IQ-Dandy, der den Flachmann immer zur Hand hat und der Studentenschaft auch schon mal das Konzept des russischen Roulettes (in extremer Variation!) selbst vorführt.
Fazit: Der 2015er Woody-Allen-Film ist ein guter, wenn auch kein überragender – eine kurzweilige Tragikomödie, die so heiter-philosophisch ist, wie sie wohl nur der New Yorker Autorenfilmer in dieser beschwingten Leichtigkeit inszenieren kann.