Die Erleichterung in der hiesigen Filmindustrie war spürbar, als Maren Ade mit ihrem dritten Spielfilm nach Cannes eingeladen wurde. Damit war Deutschland 2016 nach acht langen Jahren endlich wieder im Wettbewerb des wichtigsten Filmfestivals der Welt vertreten. Aber diese Nominierung steht nicht nur der Regisseurin und dem deutschen Kino gut zu Gesicht, sondern vor allem auch der französischen Festivalleitung, denn „Toni Erdmann“ ist ein großartiger Film. Nach dem subtilen Beziehungsdrama „Alle anderen“ erzählt Ade diesmal von Figuren, die oft kaum zu ertragen sind, ihre Gabe der präzisen Beobachtung von persönlichen Beziehungen und familiären Verhältnissen spielt sie dabei voll aus: Über zweieinhalb Stunden lang bleibt sie ganz eng bei ihren ambivalenten Protagonisten und gemeinsam mit ihren glänzenden Hauptdarstellern Sandra Hüller und Peter Simonischek macht sie das Drama „Toni Erdmann“ zu einem durchaus anstrengenden, aber zugleich überaus faszinierenden, intensiven und klarsichtigen Kinoerlebnis. Die Goldene Palme wäre ein gerechter Lohn.
Winfried Conradi (Peter Simonischek) arbeitet als Lehrer, versteht sich aber auch als Clown, der mit seinen oft derben Scherzen immer wieder für Irritation sorgt. Längst ist er von seiner Frau getrennt, auch seine Tochter Ines (Sandra Hüller) ist ihm fremd, man sieht sich nur noch selten, telefoniert zum Geburtstag, mehr nicht. Doch dann beschließt Winfried, Ines in Bukarest zu besuchen, wo diese für eine Consultingfirma arbeitet. Notgedrungen nimmt die Tochter den Vater auf, nach einem Wochenende voller Missverständnisse und peinlicher Situationen verabschiedet man sich verkrampft. Doch als Ines am Abend ausgeht, spricht plötzlich ein Mann mit Perücke und falschem Gebiss sie und ihre Freundinnen an: Es ist Winfried, der sich nun als Toni Erdmann ausgibt.
Als Toni das erste Mal in Erscheinung tritt, ist bereits gut eine Filmstunde vergangen: Maren Ade nimmt sich viel Zeit, um jene Situation zu etablieren, die im Folgenden dann aus den Angeln gehoben wird. Erst durch die teilweise quälenden ersten Szenen zwischen Ines und Winfried, in denen das Unangenehme, das Unausgesprochene, der Unwillen und die Fremdheit zwischen Vater und Tochter dominieren, bekommt der Auftritt Tonis seine ganze Tragweite. Die Maske und der neue Name ermöglichen Ines einen Kontakt zum Vater aufzubauen, der vorher nicht mehr möglich war. Das mag so beschrieben fast wie eine naive Drehbuchfantasie klingen, aber hier geht es keineswegs um einen banalen Wandel, der von einer emotionalen Versöhnung gekrönt würde, sondern Ade erzählt auch nach diesem Wendepunkt schonungslos von latenter Depression, versteckten Vorwürfen und unterdrückter Wut.
Wie schon in ihrem Debüt „Der Wald vor lauter Bäumen“ geht Maren Ade dahin, wo es weh tut. Sie lässt ihre Protagonisten in Fettnäpfchen treten, bringt sie in peinliche Situationen, bereitet ihnen unangenehme Momente, von der Art, wie sie im Leben ganz alltäglich, aber im Kino – zumindest in einem bei aller Situationskomik doch ernsten Film - selten zu sehen sind. Dabei stellt sie ihre Figuren nicht bloß, sondern dringt zu ihrem emotionalen Kern vor. Diese ebenso schonungslose wie einfühlsame Herangehensweise ist auf exzellente und vor allem auch wagemutige Schauspieler angewiesen, die Ade mit dem sich perfekt ergänzenden Duo Peter Simonischek („Oktober November“) und Sandra Hüller („Requim“, „Finsterworld“) gefunden hat.
Hüllers Ines ist stark und doch zutiefst verletzlich, sie wirkt stets etwas unentspannt und verkrampft, während Simonischek seinem Winfried/Toni viel Schalk verleiht: Der Vater verwendet seine oft extremen, aber nie boshaften Scherze nur dazu, dem Gegenüber eine Reaktion zu entlocken. Allein dieses Duett, dieses Duell, dieses Paar zu beobachten, wäre schon ein Erlebnis, doch „Toni Erdmann“ bietet uns noch viel mehr als große Schauspielkunst. Ganz unterschwellig erzählt Ade etwa von der schwierigen Situation einer Frau in der immer noch männlich dominierten Wirtschaftswelt, vom Sexismus am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft, aber auch von Rumänien als Beispiel eines Landes am Rande Europas, dem es wirtschaftlich schlecht geht, in dem viel Armut herrscht und das doch ins Visier der Finanzmärkte gekommen ist. Im Mittelpunkt des Films steht aber eine Vater-/Tochter-Beziehung und damit eine Familiengeschichte, wie man sie in dieser Komplexität und Wahrhaftigkeit selten zu sehen bekommt.
Seine Familie kann man sich nicht aussuchen heißt es oft, aber auch, dass kein Band so stark ist wie Blutsbande. Ohne sich solcher Allgemeinplätze zu bedienen, erfasst Ade das gesamte Spannungsfeld diesen beiden Annahmen. Hier geht es um zwei autarke Menschen, die sich in ihren jeweiligen Leben scheinbar gut eingerichtet haben, um die Masken, die sie dabei tragen – oft sogar im wahrsten Sinne des Wortes – und um die Gefühle, die sie verstecken oder verstecken wollen. Winfried, weil er das so gewohnt ist, Ines, weil sie gelernt hat, dass sie so in der Männerwelt am besten durchkommt. Und wenn die Fassaden langsam bröckeln und die Masken schließlich fallen, dann wartet in diesem Film natürlich keine schlichte Katharsis, sondern ein vielschichtiges Ende, das den widersprüchlichen und anregenden Kinostunden davor gerecht wird. 162 Minuten großes Kino.
Fazit: Sieben Jahre nach „Alle anderen“ meldet sich Maren Ade mit einem außerordentlichen Werk zurück: ein präzise beobachteter, mutiger, brillant gespielter, manchmal kaum auszuhaltender, aber beglückender Film.