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    Lolita
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Lolita
    Von Ulrich Behrens

    Als 1955 Nabokovs Roman „Lolita“ erschien, löste er einen Skandal aus. Während Literaten das Werk feierten, wurde das Buch in den USA und Großbritannien seit 1958 nie in seiner vollständigen Fassung veröffentlicht. Die inzestuöse Geschichte über ein im Roman 12-jähriges Mädchen und einen Literaturprofessor mittleren Alters wurde 1997 von Andrew Lyne erneut inszeniert, mit Jeremy Irons, Melanie Griffith, Dominique Swain und Frank Langella in den Hauptrollen. „Lolita“ ist (nach „Fear and Desire“, 1953; „Killer’s Kiss“, 1955; „The Killing“, 1956; „Paths of Glory“, 1957 und „Spartacus“, 1960) Kubricks sechster Kinofilm (nach drei Kurzfilmen, die er Anfang der 50er Jahre gedreht hatte).

    Kubrick suchte lange nach einer Darstellerin für Lolita und fand schließlich die blauäugige, blonde 14-jährige Sue Lyon, bei Erscheinen des Films 16 Jahre alt (Dominique Swain war übrigens 17, als sie die Rolle in dem Remake von 1997 spielte). Der Plan, auf Basis des Romans Nabokovs einen Film zu drehen, war für die frühen 60er Jahre natürlich mutig. Sue Lyon wirkt eher wie 17; Produktionsfirma, Öffentlichkeit und Zensur werden das magische Dreieck gewesen sein, das Kubrick veranlasste, für die Rolle keine jüngere Schauspielerin zu verpflichten bzw. eine, die derart jung wirkt.

    Der Film selbst jedoch lässt keinen Zweifel über die Geschichte und ihre Implikationen. Vordergründig ist „Lolita“ „sauber“: kein Sex. Der Vorspann allerdings zentriert bereits die Sicht auf das Objekt der Begierde Professor Humbert Humberts (James Mason). Kubrick zeigt Sue Lyons Beine. Die linke Hand eines Mannes lackiert Lolita die Nägel, schiebt Wattebäuschchen zwischen ihre Zehen. Der Mann trägt einen Ehering. Er wirkt unterwürfig.

    Ein Mann betritt ein vornehmes Haus. Die Möbel sind zum Teil durch Leinentücher verdeckt, es herrscht Unordnung wie nach einer feucht-fröhlichen Party oder Orgie, überall zerbrochene Gläser, umgeworfene Stühle, leere Flaschen. Verborgen hinter einem Laken schläft ein anderer Mann, noch betrunken. Humbert Humbert fragt ihn, ob er Quilty (Peter Sellers) sei. Der antwortet: „Nein, ich bin Spartacus“ (Kubricks Film aus dem Jahr 1960). Humbert ist ernst, Quilty – im Pyjama und Hausschuhen – alkoholisiert, zynisch, albern. Quilty kann oder will sich nicht an Humbert erinnern, ebenso auf Frage nicht an Dolores (Lolita) Haze. Humbert versucht, Quilty deutlich zu machen, dass er sterben werde. Er richtet eine Pistole auf ihn. Quilty greift nach Boxhandschuhen und meint, sie sollten wie zivilisierte Menschen kämpfen. Humbert schießt durch einen der Boxhandschuhe. Humbert schießt erneut, diesmal in Quiltys Bein. Der erkennt langsam die Situation, versucht über die Treppe zu entkommen, kann aber nicht mehr laufen. Er verbirgt sich hinter einem Gemälde, dem Portrait eines jungen Mädchens. Humbert feuert durch das Gemälde hindurch. Quilty ist tot.

    Vier Jahre zuvor. Der Literaturprofessor Humbert kommt in Ramsdale (New Hampshire) an, für ihn eine Zwischenstation auf dem Weg nach Ohio, wo er am Beardsley College Vorlesungen halten soll. Humbert trifft auf die Witwe Charlotte Haze (Shelley Winters), eine redselige, matronenhaft wirkende Frau, die ihren Mann vor sieben Jahren verloren hat. Seine Urne steht in ihrem Schlafzimmer vor dem Spiegel. Charlotte Haze sucht einen Mann. Humbert kommt ihr gerade recht. Sie führt ihn durch das Haus, zeigt ihm das Zimmer, das sie zu vermieten hat. Die deutliche Aufdringlichkeit geht Humbert auf die Nerven, er bleibt aber äußerlich ruhig, sagt Charlotte, sie solle ihm ihre Telefonnummer geben, er würde sich wegen des Zimmers dann melden.

    Er müsse unbedingt noch ihren Garten sehen, meint Charlotte. Unwillig geht Humbert mit. Im Garten liegt Charlottes Tochter Dolores, genannt Lolita. Sie trägt eine rote Sonnenbrille, die Gläser in Herzform, bräunt sich im Bikini auf einer Liege. Sie schaut kühl in Richtung auf Humbert und ihre Mutter, die von ihren prämierten Rosen redet. Humbert ist fasziniert von Lolita, schaut sie gebannt an, aber so, dass Charlotte es nicht merkt. Er nehme das Zimmer. „Was hat Sie letztlich dazu veranlasst, mein Garten?“ fragt ihn Charlotte. „Ich glaube, es war ihr Kirschkuchen.“

    Humbert hat sich verloren. Auf einem Sommerball der High-School hat er nur Augen für Lolita, die mit ihrem Schulfreund tanzt, während ihre Mutter schnurstracks auf den Schriftsteller Clare Quilty zugeht, den sie von früher zu kennen scheint, der sich aber nicht erinnern will. Später, als Lolita noch auf einer Party von Bekannten weilt, fragt Humbert Charlotte, ob sie Lolita nicht zu viel erlaube. Charlotte hat keine Augen für ihre Tochter. Sie ist ihr lästig, zu frech, ein Dorn im Auge, ihren Absichten gegenüber Humbert im Weg. Sie schickt sie in ein Feriencamp, um sie los zu werden. Humbert ist innerlich aufgewühlt. Was soll er tun, wenn Lolita möglicherweise Monate weg ist?

    Da erhält er, noch verzweifelt auf Lolitas Bett liegend, einen Brief von Charlotte, in dem sie ihn bittet, entweder sofort zu gehen oder sie zu heiraten, denn sie liebe ihn. Humbert lacht zynisch. Diese ekelhafte Frau heiraten?

    Er heiratet Charlotte, um in der Nähe von Lolita sein zu können.

    Heimlich schreibt Humbert ein Tagebuch, in dem er über seine Besessenheit, seine Ablehnung Charlottes, seine Pläne, seine Überlegungen schreibt. Als Charlotte, die keine Geheimnisse dulden will, das Tagebuch findet, kommt es zu einer kurzen heftigen Auseinandersetzung, in deren Verlauf Humbert überlegt, Charlotte zu erschießen, es als Unfall aussehen zu lassen, den Plan wieder verwirft; doch dann läuft Charlotte – ohne dass er es merkt – über die Straße und wird von einem Auto erfasst. Sie stirbt. Unfall? Selbstmord?

    Für Humbert als Stiefvater von Lolita scheint der Weg frei zu sein. Das Schicksal hat ihm geholfen. Er beschließt, Lolita frühzeitig aus dem Camp zu holen und mit ihr nach Beardsley zu fahren, wo er sowieso Vorlesungen halten muss und die beiden niemand kennt. Er erzählt Lolita nichts vom Tod ihrer Mutter, nur, dass sie krank sei und im Krankenhaus liege, dass er zunächst mit Lolita in ein schönes Hotel fahren wolle, um dann am nächsten Tag ihre Mutter zu besuchen.

    Im Hotel bekommen Humbert und Lolita nur noch ein Zimmer. Humbert wird von einem Mann angesprochen, der sich als Polizist ausgibt und mehr oder weniger eindeutige Andeutungen über Humbert und Lolita macht, die ihn als jemand ausweisen, der anscheinend gut über beide Bescheid weiß. Der Mann ist kein anderer als Quilty. Humbert jedoch erkennt ihn nicht.

    Lolita erzählt am nächsten Morgen Humbert von einem Spiel, das sie im Camp mit einem Jungen gespielt habe. Als Humbert nicht zu verstehen glaubt, flüstert sie ihm etwas ins Ohr. Kurz darauf gibt sie sich Humbert hin. Auf der Weiterfahrt erzählt Humbert Lolita die Wahrheit über ihre Mutter. Auf dem Weg nach Beardsley werden sie von einem Auto verfolgt.

    In der Zeit in Ohio versucht Humbert ständig, Lolita zu kontrollieren. Er verbietet ihr den Umgang mit jungen Männern, will verhindern, dass sie an einer Theateraufführung der Schule teilnimmt.

    Was Humbert noch nicht weiß: Quilty spielt für die Beziehung zwischen ihm und Lolita eine entscheidende Rolle ...

    Auch „Lolita“ gehört zu den Filmen Kubricks, in der bezüglich keiner Figur so etwas wie Sympathie aufkommt. Eine merkwürdige Distanz tut sich auf, die eine Identifizierung mit den Charakteren (für mich jedenfalls) ausschließt. In „Lolita“ steht offenbar das inzestähnliche Verhältnis zwischen Humbert und Lolita im Vordergrund. Aber es geht in diesem Film um mehr, letztlich um ein grundlegendes, sozusagen „strukturelles“ Scheitern menschlicher Beziehungen in jeder Hinsicht.

    In Charlotte Haze sehen wir eine Frau, deren einziges Problem darin zu bestehen scheint, einen Mann aufzutun, eine Frau, die auf absolute Sicherheit setzt, weil sie in sich selbst derart unsicher und schwach ist, dass sie glaubt, dieses Manko nur überjemand anders wettmachen zu können. Gleichzeitig will sie diesen Mann – wer immer es auch sei – beherrschen. Sie sagt Humbert, als dieser sich im Bad eingeschlossen hat, um Tagebuch zu schreiben, sie wolle nicht, dass zwischen ihnen irgendwelche Geheimnisse bestehen. Diese extrem egozentrische Ausrichtung der Figur der Charlotte wird noch dadurch verstärkt, dass sie ihre Schwäche auszugleichen versucht, indem sie immer wieder betont, einem literarischen Zirkel anzugehören, Preise für ihre Blumen gewonnen zu haben usw. Sie verdeckt ihre Schwächen, ihre Unselbständigkeit, um gleichzeitig ihren Machtanspruch gegenüber anderen durchzusetzen. Sie heiratet Humbert nicht aus Liebe, sondern – so paradox das vielleicht klingen mag –, um Macht auszuüben und um ihre Schwäche über ihn auszugleichen. Sie benutzt Humbert.

    Humbert, dieser scheinbar so zurückhaltende, fast schüchtern wirkende, „leicht“ freundliche Literaturprofessor, ist auf seine Weise nicht anders. Ihm ist nicht nur Charlotte ein Mittel zum Zweck, um Lolita nahe zu sein. Humbert verliebt sich nicht in Lolita, sondern in das Bild, das er von dem hat, was er „Liebe“ nennt. Nichts kann ihn daran hindern, sich in die Jugendlichkeit, die Schönheit, den Reiz der Kindlichkeit, der noch halb in Lolita steckt, die scheinbare Unschuld dieses Mädchens zu verlieben. Lolita selbst ist nur die Personifizierung dieses naiven Traums, dieser kindlichen Phantasie eines Mannes, der – obwohl Erwachsener – nicht erwachsen ist, der ausschließlich zu einer Beziehung fähig ist zwischen devoter Hingabe hier, herrschsüchtiger Kontrolle dort. In einer Szene gegen Schluss des Films sitzt er neben Lolita und weint wie ein kleines Kind. Das ist die eine Seite Humberts.

    Die andere: Er überlegt einen Moment, vor dem Verkehrsunfall oder Selbstmord Charlottes, sie mit deren eigenem Revolver zu erschießen und es wie einen Unfall aussehen zu lassen (Charlotte selbst hatte ihn auf die Idee gebracht, weil sie behauptete, der Revolver sei nicht geladen). Doch er kommt davon ab. Er hat nicht den Mut, sich seinen eigenen irrsinnigen Weg freizuschießen. Statt dessen erzählt er, weil er meint Charlotte sei noch im oberen Stockwerk, seine Tagebuchnotizen seien nur Aufzeichnungen für einen Roman und er habe nur ihre Namen benutzt, wie Schriftsteller das des öfteren praktizierten – eine Geschichte, die Charlotte ihm nie abgenommen hätte. Da kommt ihm „das Schicksal“ zu Hilfe. Charlotte läuft in ein Auto und ist tot. Humbert ist unfähig, seine Verantwortung für diesen Tod zu sehen. Warum auch? Nein, er bringt ihm nur Vorteile. Er ist jetzt Stiefvater von Lolita. Er hat freie Hand.

    Lolita, die – nur scheinbare – Unschuld, treibt ein ebenso böses Spiel mit Humbert wie dieser mit ihr. Der Unterschied ist: Humberts Spiel ist für Lolita leicht zu durchschauen, ihr Spiel für Humbert überhaupt nicht. Sie und Quilty spielen mit Humbert; sie instrumentalisieren ihn für ihre eigenen Zwecke. Als Humbert darüber aufgeklärt wird, erschießt er Quilty. Er richtet ihn hin und wird selbst dafür bezahlen.

    Die Beziehungen sämtlicher Personen sind geprägt von egozentrischer Funktionalisierung der anderen, Betrug und Selbstbetrug. Lolita heiratet einen Mann, den sie nicht liebt, wird von ihm schwanger; er sei ein netter Kerl, sagt sie Humbert. Sie ist nicht fähig, sie hat nicht gelernt zu lieben. Humbert fleht sie an, bettelt, heult, erniedrigt sich vor ihr – ohne Sinn, Verstand und Erfolg. Humberts Leben ist auf der ganzen Linie gescheitert.

    Erich Fromm hat seinen Patienten des öfteren die Frage gestellt: „Lieben Sie Ihren Partner, weil sie ihn brauchen; oder brauchen Sie ihn, weil sie ihn lieben?“ Das kennzeichnet die Situationen in „Lolita“ deutlich.

    Peter Sellers spielt (ähnlich wie kurz darauf in „Dr. Seltsam, oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“, 1964) drei Rollen bzw. ein und dieselbe Person in verschiedenen Verkleidungen exzellent. James Mason, die junge Sue Lyon und Shelley Winters holen aus ihren Rollen alles heraus. Ebenso grandios.

    „Lolita“ war sicherlich ein für seine Zeit gewagtes Unternehmen. Die – wenn auch im Film nicht gezeigte, so doch immer wieder angedeutete – (sexuelle) Freizügigkeit, die ja auch Nabokovs Roman kennzeichnet, arbeitet Kubrick als das heraus, was sie hier ist: als Teil eines sozialen Geflechts, das ausschließlich aus Abhängigkeiten besteht, aus instrumentellen Beziehungen, in denen die inzestähnliche Situation nur einen Moment neben anderen darstellt. Ganz zu Anfang des Films, als Charlotte Humbert ihre Telefonnummer (1776) gibt, sagt er: „1776 – ah, das Jahr der Unabhängigkeitserklärung, leicht zu merken.“ Nur, wer in diesem Film ist unabhängig?

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