„Troubles“, „Unruhen“, so nennen die Briten die bürgerkriegsartigen Zustände, die seit vielen Jahren Nordirland plagen, zahlreiche Tote forderten und immer noch nicht völlig beendet sind. In diese Welt schmeißt der bislang vor allem als Fernsehserienregisseur in Erscheinung getretene Yann Demange („Secret Diary Of A Call Girl“) in seinem Debütfilm „'71 - Hinter feindlichen Linien“ einen jungen britischen Soldaten und mit ihm den Zuschauer. Man braucht nicht unbedingt zu durchschauen, wer hier gegen wen kämpft und schon gar nicht warum, um dank der intensiven Kameraarbeit und der überzeugenden Darsteller ein Gespür für die Situation in Nordirland zu bekommen. Gekleidet in einen hochspannenden Thriller erzählt der Kinodebütant so nicht nur eine dramatische Geschichte, sondern auch von sozialen sowie religiösen Konflikten und die Schwierigkeit, diese zu überwinden.
England, 1971. Der junge Soldat Gary Hook (Jack O’Connell) wird mit seiner Einheit nicht wie erhofft nach Deutschland versetzt sondern ins nordirische Belfast. Dort werden die Konflikte zwischen katholischen Republikanern, die die Abspaltung fordern, und protestantischen Unionisten bzw. Loyalisten, die Teil des Vereinigten Königreichs bleiben wollen, immer gewalttätiger. Gleich bei seinem ersten Einsatz gerät Hook hinter die Linien der Katholiken und findet sich plötzlich allein inmitten von Belfast wieder. Während er verletzt auf Hilfe wartet und dabei auch immer von Katholiken, die damit ihr Leben riskieren, unterstützt wird, sucht seine Einheit verzweifelt nach ihm. Zudem ist auch ein Trio von britischen Spezialagenten auf der Suche nach Hook, denn der Soldat hat in einem Pub beobachtet, wie einer der verdeckt operierenden Briten einem Unionisten eine scharfe Bombe gab. Die soll mit dem Ziel eingesetzt werden, die Krawalle noch weiter anzuheizen – ein Vorgang, der natürlich niemals ans Licht der Öffentlichkeit gelangen darf.
Der Nordirlandkonflikt wurde schon in zahlreichen großartigen Kinofilmen thematisiert. Doch Steve McQueens „Hunger“ wie auch die jeweils mit dem Goldenen Bären bei den Berliner Filmfestspielen ausgezeichneten „Im Namen des Vaters“ von Jim Sheridan und „Bloody Sunday“ von Paul Greengrass“ unterscheiden sich dabei in einer Hinsicht deutlich von „‘71“. Alle drei sind dezidierte Erzählungen aus irischer Sicht, die die Missstände deutlich anprangern und sich dabei auf die Seite des nicht immer sympathischen Protagonisten schlagen. Yann Demange wählt dagegen eine Perspektive von außen. Bei ihm ist ein junger Brite die Hauptfigur, unpolitisch und unvoreingenommen. Dieser wird unbedarft in den Nordirlandkonflikt geworfen und ist ebenso schockiert von der Gewalt der irischen Fraktionen wie von der Haltung mancher seiner Vorgesetzten.
Im Nordirlandkonflikt kämpfen Nordiren gegen Nordiren. Für den unbedarften Zuschauer, der die Details des Konflikts vielleicht nur vage kennt, mag es in „‘71“ etwas verwirrend anmuten, wer nun auf welcher Seite steht, wer warum gegen wen kämpft. Doch diese Verwirrung ist Programm, denn dem Protagonisten geht es nicht anders. Wenn sich Gary Hook nach einem vollkommen missglückten Einsatz plötzlich allein im katholischen Teil Belfasts wiederfindet, geht es für ihn, der hier als britischer Soldat absolut verhasst ist, nicht um die „Politik“ hinter dem Krieg, um die Frage nach seinen Ursachen, nach der Motivation der Parteien, sondern nur ums nackte Überleben. Auf diese Weise ist „’71“ über weite Strecken ein packender Thriller, in dem Hook misstrauisch Hilfe annimmt, stets darauf vorbereitet ist, doch verraten zu werden und in einigen intensiv gefilmten Actionszenen um sein Leben rennt oder kämpft.
Neben diesen Thriller-Elementen erzählt Demange in „’71“ auch viel über die Strukturen des Nordirlandkonflikts. Er streift immer wieder die einzelnen Seiten: die in moderate und radikale Elemente aufgesplitterte IRA kommt genauso vor wie die Angst der Bevölkerung, der Kollaboration bezichtigt zu werden. Eine größere Rolle nimmt aber vor allem die extrem brutale Vorgehensweise der Polizei ein, die Anfang der 70er Jahre begann, mehr oder weniger willkürliche Verhaftungen vorzunehmen und damit die Gewalt noch weiter schürte. In diesem Zusammenhang gibt auch Demange seine sonstige Neutralität auf und hinterfragt die Rolle der Briten mehr als kritisch. Auch wenn ihre Armee offiziell neutral agiert, unterstützt sie die lokale Polizei und damit doch die Loyalisten. Vor allem zeigt er aber die im Untergrund operierenden Spezialeinheiten, die mit ihrer Förderung von Bombenattentaten ganz bewusst zu einer Eskalation der Gewalt beigetragen haben. Demange versteht es, in „’71“ gleichsam all diese Aspekte anzureißen und dennoch immer die Spannung hochzuhalten. Sein packender Thriller ist so einer der interessantesten Filme, die seit langem über den Nordirlandkonflikt gedreht wurden.
Fazit: Yann Demange gelingt es in seinem Debütfilm „'71 - Hinter feindlichen Linien“ eine persönliche Geschichte mit einem vielschichtigen Blick auf den Nordirlandkonflikt zu verbinden. Das Ergebnis ist ein packender und hochinteressanter Thriller.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2014. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 64. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.