Nach seiner Romanze „Frau2 sucht HappyEnd“ von 2001 hat Edward Berger für mehr als ein Jahrzehnt keinen weiteren Kinofilm gedreht, sich in der Zwischenzeit aber als einer der besten deutschen Fernsehregisseure profiliert. Der Adolf-Grimme-Preisträger (für „Ein guter Sommer“) gehörte zum Regie-Team der herausragenden Fernsehserie „KDD – Kriminaldauerdienst“, setzte in erfolgreichen Krimireihen wie „Bloch“, „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ Duftmarken und bewies 2012 mit der höchst unterhaltsamen Screwball-Komödie „Mutter muss weg“, dass er mehr kann als Spannung und Krimi. Mit dem angenehm klischeefreien Jugend-Drama „JACK“, das seine Premiere im Wettbewerb der Berlinale 2014 erlebte, lässt Berger nun einen weiteren überzeugenden Beleg für seine Vielseitigkeit folgen und feiert zugleich ein eindrucksvolles Kino-Comeback.
Jack (Ivo Pietzcker) ist gerade mal 10 Jahre alt und muss sein Leben doch schon organisieren wie ein Erwachsener. Da seine junge, alleinerziehende Mutter Sanna (Luise Heyer) lieber ihr ausschweifendes Party- und Sexleben genießt, muss er dafür sorgen, dass sein kleiner Bruder Manuel (Georg Arms) morgens etwas zu essen bekommt und keinen Unsinn anstellt. Doch als der von der Aufgabenvielfalt überforderte Jack Manuel in zu heißes Badewasser steckt und der Kleine sich dadurch verletzt, schreitet das Jugendamt ein. Jack wird Sanna weggenommen und ins Heim gesteckt. Er hofft, wenigstens in den Ferien zurück zum geliebten Bruder zu können, doch wieder einmal wird er enttäuscht. Seine Mutter holt ihn nicht wie vereinbart ab und als er beim Schwimmen von einem Bully tyrannisiert wird, kommt es zu einer drastischen Tat. Jack haut aus dem Heim ab und fährt nach Hause. Seine Mutter ist allerdings nicht dort und Manuel hat sie schon vor mehreren Tagen bei einer Freundin abgeladen. Mit dem kleinen Bruder an der Hand startet Jack eine Odyssee durch Berlin auf der Suche nach der scheinbar spurlos verschwundenen Mutter.
Regisseur Edward Berger und seine Co-Autorin Nele Mueller-Stöfen, die vor allem als Schauspielerin bekannt ist und die hier auch eine kleine Nebenrolle als Sozialarbeiterin bekleidet, nennen ihr Werk nicht zufällig „JACK“. Der Titel ist Programm, der junge Protagonist ist in jeder einzelnen Szene des Films zu sehen und die Geschichte ist aus seiner Perspektive erzählt. So erklären sich auch einige Auslassungen (Jack ist beispielsweise nicht dabei, als das Jugendamt seine Entscheidung trifft und wir werden genau wie er vor vollendete Tatsachen gestellt), die kurzzeitig irritieren können. Aber letztlich bekommt der Film durch diese erzählerische Konsequenz eine zusätzliche Unmittelbarkeit und Dringlichkeit. Wenn Jack gehetzt oder auch mal panisch durch die Straßen Berlins rennt, dann bleibt ihm Jens Harant („Meine Schwestern“, „Es kommt der Tag“) mit der Handkamera immer auf den Fersen. Und Jack muss oft rennen: Mal ist er morgens zu spät dran ist, weil er noch seinen kleinen Bruder versorgen musste, dann wiederum flieht er vor der Polizei, vor einem Parkhauswächter oder vor dem Sicherheitspersonal eines Kaufhauses. Berger lässt die einzelnen Szenen am Stück ablaufen und setzt Schnitte nur sehr sparsam ein, was den realistisch-dokumentarischen Eindruck des Ganzen noch verstärkt.
Mit dem bedingungslosen Fokus auf Jack stellt der Regisseur seinen jungen Hauptdarsteller vor eine schwierige Herausforderung und so ist die Leistung von Newcomer Ivo Pietzcker, der erst nach über sechs Monaten Casting entdeckt wurde, nicht hoch genug einzustufen. Im Minenspiel des Nachwuchsdarstellers findet sich die Last der Verantwortung, die Jack trägt, mit dem Wunsch vereint, Kind sein zu wollen und zu dürfen. Die unfreiwillige Ernsthaftigkeit weicht nie aus seinem Blick, sie ist selbst in leichten, spielerischen Momenten da. Neben diesem ergreifenden Porträt bleiben alle anderen Figuren zwangsläufig deutlich schwerer fassbar. Das gilt insbesondere für Jacks Mutter Sanna. Sie ist mit der Erziehung zweier Kinder klar überfordert, gleichzeitig will sie ihr locker-fröhliches Leben nicht aufgeben. Es ist für den Betrachter kaum einzuschätzen, wie weit ihr Egoismus geht und welche Einschränkungen sie den Jungs zuliebe vielleicht doch hinnehmen würde. Wir sind darüber genauso im Unklaren wie Jack selbst und so ist seine verzweifelte Suche nach ihr in heruntergekommenen Clubs und auf Drogenpartys besonders effektvoll, auch wenn dafür erzählerische Leerstellen in Kauf genommen werden. Die Nähe zu ihm macht auch das subtil erzählte Ende so eindringlich, man spürt förmlich, wie in Jack der Wunsch nach einem klärenden Gespräch rumort - bis er schließlich eine ebenso überraschende wie letztlich folgerichtige Entscheidung trifft und damit den passenden Schlusspunkt unter einen durchaus unbequemen Film setzt.
Fazit: „JACK“ von Edward Berger und Nele Mueller-Stöfen ist ein sehenswertes Drama, eine unaufgeregte und klischeefreie Erzählung vom Schicksal eines kleinen Jungen.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2014. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 64. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.